Nur der kleine Geist hält Ordnung?
Was ist dran am Mythos vom kreativen Chaos? Kann man durch das täglich neu arrangierte Wirrwarr von Merkzetteln, Prospekten, Briefen, Grafiken, Textentwürfen, Fotos und Schreibutensilien das Gehirn stimulieren und ungewöhnliche Gedankenketten in Gang zu setzen?
Prof. Dr. Siegfried Preiser
„Nur der kleine Geist hält Ordnung, das Genie über- blickt das Chaos.“ Diesen Spruch hatte ich lange Zeit über meinem Schreibtisch hängen, allerdings mit einem schlechten Gewissen, weil er vor allem als eine billige Ausrede diente, nicht aufräumen zu müssen – bis ich schließlich in einer experimentellen Studie den Nach- weis entdeckte, dass Ordnung im Arbeitsumfeld zwar gesundheitsbewusstes Verhalten, Großzügigkeit und Konventionalität begünstigen soll, dass aber Unordnung die Kreativität fördert (Vohs, Redden & Rahinel, 2013).
Kreativitätsfreundliche Atmosphäre
Generell gilt eine anregende Umgebung mit vielen Wahrnehmungsimpulsen und vielseitigen Informations- angeboten als Element einer kreativitätsfreundlichen Atmosphäre (Preiser & Buchholz, 2008): Vielfältige Im- pulse durch Informationsmaterialien, anregende Gespräche im Kollegium, Geräusche und Gerüche aus der Natur oder dem Straßenverkehr, visuelle Reize von Postern, Gemälden und eben auch vom überbordenden Schreibtisch können verschiedene Hirnregionen simultan stimulieren und dazu beitragen, Gedankensplitter und Gedächtnisspuren aus verschiedenen Sinnesmodalitäten und Wissensbereichen miteinander in Beziehung zu setzen. Wenn dann die vielfältigen Assoziationen strukturiert verarbeitet werden, können tatsächlich kreative Gedankengänge entstehen.
Mehr Effektivität durch Clean-Desk-Policy
Aber Vorsicht: Das Bürochaos mag in besonderen Momenten zwar neue Ideen stimulieren, dafür jedoch nimmt man zeitraubende Such- und Wühlaktionen, verloren gegangene Informationen, versäumte Termine und verärgerte Kolleginnen und Kollegen in Kauf. Fachleute für Arbeitstechnik, Schreibtischorganisation und Selbstmanagement versprechen eine Effektivitätssteigerung um bis zu 20 Prozent durch aufgeräumte Büros, wie sie etwa aufgrund einer Clean-Desk-Policy, einer unternehmensinternen Verpflichtung zum Aufräumen, entstehen. Die meisten von uns haben allerdings ihr Schreibtischchaos inzwischen ohnehin in die Dateistruktur ihres Computers transformiert. Dort steht dann die nächste Aufräumaktion an.
Das Gehirn schafft sich seine Ordnung
Wie steht es denn mit einer „gehirngerechten“ Arbeitsweise, die Ordnungs- und Chaosbefürwortende gleichermaßen in Anspruch nehmen? Was nur pedantische Menschen freiwillig und ständig mit ihrem Schreibtisch machen, erledigt unser Gehirn spontan und exzessiv mit unseren Wahrnehmungen, Gedanken, Erinnerungen und Fantasien: strukturieren und kategorisieren und dabei vereinheitlichen und vereinfachen. Logische Widersprüche und Dissonanzen werden harmonisiert, Unpassendes wird ignoriert oder bagatellisiert. So konstruiert das Gehirn Ordnung und Überschaubarkeit in unserer Gedankenwelt. Nur wenn neuartige Informationen unsere Aufmerksamkeitsschwelle überschreiten und als bedeutsam wahrgenommen werden, werden unsere inneren Abbilder der Realität modifiziert und angepasst.
Kognitive Sackgassen
Perfekt organisiertes Wissen bietet viele Vorteile: Wie in einem aufgeräumten Werkzeugkasten oder einer gut strukturierten (digitalen) Ablage findet man schnell, was man braucht, und kann es in systematischer Weise nutzen. Man kann zielgerichtet handeln, ohne ständig aufgehalten oder abgelenkt zu werden. Allerdings bringen das ständig aufräumende Gehirn und die kognitive Ordnung auch Risiken mit sich: Unsere Wahrnehmung und unser Gedächtnis reduzieren die Komplexität der Realität. Bei Routineaufgaben erleichtern uns Standardisierungen und Vereinfachungen das schnelle Reagieren, bei ungewöhnlichen Problemstellungen landen wir allerdings oft bei gewohnten Gedankengängen und in wiederkehrenden kognitiven Sackgassen (vgl. Preiser, 2017).
Konventionelle Strukturen durchbrechen
Unser Gehirn ist aber nicht nur ein Ordnungsfanatiker. Das Corpus callosum, die Brücke zwischen den Hirnhälften, ist das anatomisch sichtbare Zeichen für den ständigen Signal- und Informationsaustausch zwischen verschiedenen Hirnregionen mit unterschiedlichen Spezialisierungen. Wir können Verknüpfungen zwischen verschiedenen Wahr- nehmungs- und Gedächtnisinhalten herstellen.
Kleine Kinder und erwachsene Synästhetikerinnen bzw. Synästhetiker verbinden sogar verschiedene Sinnesmodalitäten so intensiv miteinander, dass sie diese nicht mehr auseinanderhalten können. Sie fühlen beispielsweise Gerüche als „rund“ oder „spitz“ und sehen Ziffern in einer ganz bestimmten Farbe. Eine Farbfläche kann dann im wörtlichen Sinne „laut“ oder „schreiend“ sein. Über derartige neuronale Vernetzungen ist zu verstehen, dass sich unter Kunstschaffenden, die gemeinhin als kreativ gelten, überproportional viele Synästhetikerinnen und Synästhe tiker finden (vgl. Ramachandran & Hubbard, 2004; Ward, Thompson-Lake, Ely & Kaminski, 2008). Erklärt wird dieser Befund damit, dass neuronale Vernetzungen und aufgelöste gedankliche Ordnungen originelle Einfälle begünstigen. Kreative Problemlösungen sind umso überraschender und faszinierender, je mehr konventionelle Strukturen durchbrochen werden – um dann wieder in einer neuen und überzeugenden Ordnung zu münden.
Kreativitätsanregungen
Es geht also bei der Kreativitätsförderung darum, Wahrnehmungen und Erinnerungen zu differenzieren, sich unfertige Ideen zu erlauben, ungewöhnliche gedankliche Verknüpfungen zu fördern und verschiedene Wissensgebiete assoziativ miteinander in Beziehung zu setzen. Dafür haben sich Kreativitätsforscherinnen und -forscher, -trainerinnen und -trainer nicht nur das Konzept des chaotischen Schreibtischs, sondern viele weitere Anregungen und Tipps einfallen lassen: freie Assoziationen zulassen, Zufallseffekte provozieren, verschiedene Sinnesmodalitäten verknüpfen, Analogien, Metaphern oder bildliche Darstellungen mit einem aktuellen Problem in Beziehung setzen oder mit einer grünen Farbfläche „alles im grünen Bereich“ bzw. „freie Fahrt“ signalisieren.
Aufgeschlossene Grundhaltung
Dennoch wäre es naiv, zur Förderung der Kreativität Büros grün anzustreichen, wie in der Managementliteratur bisweilen gefordert wurde. Eine grüne Farbfläche oder auch angenehme Hintergrundmusik mögen zur Entspannung beitragen und auf diese Weise stressbedingten Denk- und Kreativitätsblockaden entgegenwirken, aber solche Wahrnehmungsinhalte verblassen durch Adaptation und verlieren ihre aktivierende Funktion, verschiedene Wissens- und Erlebnisbereiche assoziativ miteinander zu verknüpfen. Derartige Effekte werden selbst mit starken, »schreienden« Reizen nur vorübergehend erzielt. Entscheidender ist vielmehr, eine aufgeschlossene Grundhaltung zur Problembearbeitung zu fördern, wie sie nur beispielhaft durch eine einladende Körperbewegung oder eben durch grüne Signalfarbe aktiviert wird.
Gedanklichen Widersprüchen nicht ausweichen
Es ist nicht der vermüllte Arbeitsplatz als solcher, der kreative Gedankengänge fördert (und systematisches Arbeiten behindert); entscheidend ist die Vielfalt der Informationen, Sinneseindrücke und Erinnerungen, die viele Gehirnareale stimuliert, miteinander vernetzt und so neuartige gedankliche Konstellationen ermöglicht. Zudem gibt es auch Wissenschafts- oder Kunstschaffende, die einen ablenkungsfreien Raum brauchen, um kreativ zu sein: eine leere Seite auf dem Papier oder Bildschirm, vielleicht nur ein Datenblatt mit überraschenden Ergebnissen. Wer gedanklichen Widersprü- chen nicht ausweicht, sondern sie zu integrieren sucht, wer den eigenen Erfahrungs- und Erinnerungshorizont in alle Richtungen absucht und aktiviert, ohne durch umherschweifende Gedanken oder kognitive Umwege die eigentliche Problemstellung aus dem Auge zu verlieren, braucht keine äußere Stimulation, um die Gedanken auf kreative Reisen zu schicken.
Freiräume für Denkprozesse
Ob der Arbeitsprozess eher durch vereinfachende Ordnung oder ausufernde Vielfalt begünstigt wird, hängt von der jeweiligen Aufgabenstellung und dem persön lichen Arbeitsstil ab. Und so ist auch eine einheitlich verordnete aufgeräumte Arbeitsumgebung nicht per se problematisch und kann für viele Menschen den Arbeitsalltag effektiver machen. Wichtiger ist es, den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern Freiräume für die persönliche Gestaltung ihres Arbeitsprozesses und vor allem ihrer Denkprozesse zu lassen. Auch bei einem aufgeräumten Schreibtisch können wir so auf kreativitätsförderliche Selbstgestaltungskräfte hoffen.
Kreativität trotz aufgeräumtem Schreibtisch
Wer die Nachteile eines vermüllten Arbeitsplatzes vermeiden möchte, kann sich trotzdem eine anregungsreiche und stimulierende Arbeitsumgebung schaffen: So können zum Beispiel Postkarten, Zeitschriften oder Bildbände aus der Schublade, Landschaftsfotos auf dem Bildschirm oder der Blick aus dem Fenster genutzt werden, um verschiedene Gehirnareale zu aktivieren und für unkonventionelle Gedankengänge bereit zu machen (vgl. Preiser, 2016). Auch eine gedankliche Fantasiereise, Erinnerungen an Landschaften, Filmszenen, Gerüche oder interessante Gespräche können das innere Informationsnetz erweitern. Ebenso können Gedankenketten, die immer wieder in Sackgassen führen, bewusst unterbrochen werden, können Pausen gemacht oder es kann Ablenkung gesucht werden, um den eigenen Arbeitsspeicher von Irrwegen und Denkfehlern zu befreien und einen gedanklichen Neustart zu ermöglichen.
Zuerst erschienen im Report Psychologie 11+12/2018