Wie passen Menschen und Berufe zusammen?
Prof. Dr. Heinz Schuler erhält den Deutschen Psychologie Preis 2017 für seine herausragenden Leistungen auf dem Gebiet der Arbeits- und Organisationspsychologie, insbesondere der Personalpsychologie und Eignungsdiagnostik.
Für seine wegweisende Pionierarbeit in der deutschsprachigen Arbeits- und Organisationspsychologie wird der Psychologe Prof. Dr. Heinz Schuler am 24. Oktober 2017 in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften geehrt. Der Deutsche Psychologie Preis ist mit 10.000 Euro dotiert und wird alle zwei Jahre verliehen. Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP), die Bundespsychotherapeutenkammer (BPtK), die Christoph-Dornier-Stiftung (CDS) und die Deutsche Gesellschaft für Psychologie (DGPs) würdigen mit diesem Preis herausragende Leistungen in der psychologischen Forschung, die sich durch hohe praktische Bedeutung auszeichnen.
Herr Schuler, Sie haben sich in Ihrer Forschung sehr intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, wie Menschen und Berufe zusammenpassen. Gibt es für jeden Menschen den passenden Beruf und für jede offene Stelle den besten Bewerber?
Für jeden Menschen gibt es nicht einen, sondern mehrere Berufe, die zu ihm passen – je nach Ähnlichkeit der Berufe und je nach Vielfalt der Interessen und Fähigkeiten der Person. Freilich ist der typische Fall nicht der, dass ein Beruf perfekt und in jeder Hinsicht zu einem Menschen passt – und umgekehrt. Man kann also eher sagen, es gibt für jeden Menschen Berufe, die mehr oder weniger zu ihm passen, die er mehr oder weniger gut ausfüllt. Von Seiten der offenen Stellen aus ist es ganz entsprechend. Dabei ist es interessant, dass dieses Zusammenpassen nicht immer ganz offensichtlich ist: Mir kommt das Beispiel eines arbeitslosen Gerbers in Erinnerung, der immer wieder bei der Arbeitsagentur nach offenen Stellen gefragt hat. Die Antwort war: Nein, für Gerber sieht es in Deutschland sehr schlecht aus. Wir haben den Mann getestet, befragt und herausgefunden, dass er nach kurzer Einarbeitung ein guter Baumarktverkäufer sein könnte. Und das hat sich auch voll und ganz bestätigt, zu seiner Zufriedenheit und auch zu der seines Arbeitgebers. Das bedeutet, mit Offenheit und den richtigen Methoden findet man in den Menschen mehr an Möglichkeiten, als es die einmal eingeschlagenen Pfade erkennen lassen.
Wie kann man herausfinden, welcher Beruf zu einem Menschen passt?
Man untersucht zweierlei: den Menschen und den Arbeitsplatz. Für beides stehen viele Methoden zur Verfügung. Auf der einen Seite gibt es Verfahren der Berufseignungsdiagnostik, das sind zum Beispiel Tests, Auswahlgespräche, Arbeitsproben, Assessment Center. Auf der anderen Seite gibt es Verfahren der Arbeits- und Anforderungsanalyse. Und dann braucht man noch statistische Verfahren, um die beiden Seiten zusammenzubringen und die Erfolgswahrscheinlichkeiten für eine Person-Berufs-Kombination zu ermitteln.
Wie sieht das konkret aus?
Im Fall des erwähnten Gerbers haben wir ein System angewandt, das wir Job-Profiling genannt haben. Dabei wurden für eine große Zahl von Berufen die Anforderungen bestimmt. Die Testergebnisse einer Person werden mit allen Berufen verglichen. Dafür kommt ein mathematischer Algorithmus zur Anwendung, der laufend verbessert wird. Als Ergebnis werden diejenigen Berufe – immer mehrere – angezeigt, die am besten zu dieser Person passen. Ganz ähnlich funktioniert unser Internet-Test www.was-studiere-ich.de, der jährlich von einer Million junger Leute zur Studien- und Berufsberatung genutzt wird.
Wie findet ein Unternehmen geeignete Mitarbeiter?
Zum „Finden“ gehört natürlich auch das Personalmarketing. Je besser ein Unternehmen die Anforderungen seiner Arbeitsplätze kennt und weiß, welche Personmerkmale hierzu passen, desto gezielter kann es potenzielle Bewerber ansprechen und desto chancenreicher kann es sie auswählen. Auch das Image eines Unternehmens spielt dafür eine große Rolle. Je größer die Zahl der Bewerber ist, desto strenger kann ein Unternehmen auswählen und desto geringer ist die Gefahr, ungeeignete Personen einzustellen. Auch das Zusammenpassen von Menschen und Organisationen ist ein wichtiges Thema. Es sind andere Personen, die sich in der öffentlichen Verwaltung bewerben, als diejenigen, die eine Event-Agentur als Arbeitgeber suchen.
Wie können eignungsdiagnostische Verfahren bei der Auswahl helfen?
Die eingesetzten Verfahren sollten den Anforderungen der Arbeitsplätze möglichst gut entsprechen. Das kann in sehr konkreter Form stattfinden, indem man zum Beispiel eine technische Arbeitsprobe für einen Mechaniker einsetzt oder ein simuliertes Verkaufsgespräch für einen Verkäufer. Die Verfahren können aber auch abstrakter Natur sein wie zum Beispiel Fähigkeits- und Persönlichkeitstests. Einstellungsinterviews können sehr flexibel gestaltet werden. Zum Beispiel kann man nach ganz konkreten Arbeitserfahrungen und Ergebnissen fragen, man kann aber auch Fragen zu Interessen und Motiven stellen. Bei allen Typen von Auswahlverfahren findet man in der Praxis eine große Spannweite in der Qualität – und auch große Unterschiede in der Qualifikation der Auswählenden.
Was macht denn gute Einstellungsverfahren aus?
Für einzelne Einstellungsverfahren lässt sich das einfach bestimmen: verschiedene Diagnostiker oder Auswählende sollten zum gleichen Ergebnis kommen, dann ist das Verfahren objektiv. Diese Objektivität lässt sich als Kennwert bestimmen. Für konventionelle Auswahlgespräche ist sie niedrig, für die meisten Tests ist sie hoch. Der zweite Kennwert bezeichnet die Reliabilität, das ist das Maß der Übereinstimmung der Testergebnisse einer Person zu verschiedenen Zeitpunkten. Dieser Kennwert ist hoch für Intelligenztests, mittel für Persönlichkeitstests und niedrig für die meisten Aufgaben im Assessment Center. Der wichtigste Kennwert ist die Validität. Er bezeichnet, ob ein Verfahren tatsächlich das misst, was es messen soll und deshalb helfen kann, eine zutreffende Prognose der Leistung, Zufriedenheit oder Gesundheit zustande zu bringen.
Bedeutet das, dass Assessment Center per se nicht tauglich sind?
Glücklicherweise nicht, Im Gegenteil gehört ein sachkundig konstruiertes und durchgeführtes Assessment Center zu den besten und „sozial validesten“ Verfahren zur Auswahl und Personalentwicklung. Leider hat die Prognosekraft der in der Praxis durchgeführten Assessment Center in den letzten zwei Jahrzehnten kontinuierlich abgenommen.
Woran liegt das?
Das hat meines Erachtens zwei Ursachen: Erstens wird zunehmend darauf verzichtet, multimodal vorzugehen. Stattdessen werden fast nur Simulationsaufgaben wie Rollenspiele, Präsentationen und Gruppendiskussionen aneinandergereiht. Deren inkrementelle Validität ist gering, das bedeutet, sie haben zusammengenommen kaum mehr Aussagekraft als eine dieser Aufgaben allein. Zweitens werden die meisten Praxis-Assessment-Center heute nicht mehr von qualifizierten Eignungsdiagnostikern konzipiert und gemeinsam mit erfahrenen Führungskräften durchgeführt.
Viele Unternehmen setzen inzwischen Online-Assessment Center ein und beurteilen sie aufgrund ihrer Ökonomie sehr positiv. Was ist aus eignungsdiagnostischer Perspektive davon zu halten?
Online-Diagnostik hat sich als probates Mittel erwiesen, die Vorauswahl zu verbessern. Assessment Center allerdings sind, wie gesagt, zu einem Teil durch interaktive Aufgaben wie Rollenspiele, Präsentationen und Gruppendiskussionen gekennzeichnet. Dies lässt sich online nicht gut gestalten. Aber Tests und biografische Fragebogen lassen sich sehr gut auf diese Weise durchführen und ersparen beiden Seiten erheblichen Aufwand. Man darf dabei allerdings nicht vergessen, dass diese Tests den gleichen psychometrischen Ansprüchen zu genügen haben wie schriftlich durchgeführte Verfahren, und dass es späterer Überprüfung bedarf, ob die Antworten tatsächlich von dem betreffenden Kandidaten kommen und nicht zum Beispiel von seiner großen Schwester.
Kurz nach der Jahrtausendwende haben wir eine der ersten sehr groß angelegten Aktionen der internetgestützten Personalauswahl durchgeführt und dabei für einen Automobilhersteller die Mitarbeiter für ein neues Werk ausgewählt. Die politische Vorgabe war, dass nur arbeitslose Personen ausgewählt werden sollten, und dass die Vorbildung keine Rolle spielen darf. Das Ergebnis war, dass dieses neue Werk nach wenigen Jahren ein neues Automobil produzierte und ausgezeichnete Ergebnisse lieferte. Allerdings war die internetgestützte Auswahl nur der erste Schritt in einer Abfolge diagnostischer Phasen.
Zusammengefasst ist damit zu rechnen, dass derartige internetgestützte Vorgehensweisen weitere Verbreitung finden. Die Möglichkeiten, den Datenschutz zu gewährleisten, haben sich zwar verbessert, allerdings findet eine laufende Eskalation des Aufrüstens auch auf Seiten derer statt, die ihn unterlaufen wollen.
Soziale und überfachliche Fähigkeiten spielen im Arbeitsleben eine wichtige Rolle. Wie können diese Merkmale getestet werden?
In gewissem Maße sind alle Persönlichkeits- und Fähigkeitsmerkmale überfachlich. Deshalb haben sich auch eine Hand voll Eigenschaften als erfolgversprechend für die allermeisten Berufe herausgestellt, vor allem Intelligenz, Leitungsmotivation, Gewissenhaftigkeit und soziale Kompetenzen. Für diese und einige weitere Merkmale gilt allerdings, dass jeweils unterschiedliche Teilkomponenten ausschlaggebend sind, zum Beispiel der räumliche und der numerische Intelligenzfaktor für Architekten, der sprachliche für Historiker, die Kombination von Sprach- und Rechenfähigkeit für Kaufleute. Ähnliches gilt für die sozialen Kompetenzen: Mitglieder eines Teams sollten verträglich und kooperativ sein und sich gegenseitig unterstützen. Führungskräfte werden eher danach beurteilt, ob sie andere motivieren, koordinieren und überzeugen können.
Messbar ist zum Glück jedes menschliche Merkmal. Nicht jedes gleich gut und einfach, und grundsätzlich dann besser, wenn man mehrere unterschiedliche Verfahren kombiniert. Mit unserem Hohenheimer Konzept der trimodalen Eignungsdiagnostik konnten wir gut belegen, dass die verlässlichsten Diagnosen dann gelingen, wenn man drei Modalitäten kombiniert: den Eigenschaftsansatz, den biografischen Ansatz und den Simulationsansatz. Konkret heißt das beispielsweise, wenn man Tests, biografische Interviewfragen und Arbeitsproben kombiniert, kann man mit wesentlich besseren Ergebnissen rechnen als bei Anwendung einer dieser Methoden allein. Kombiniert man dagegen gleichartige Verfahren, bringt das wenig Zusatznutzen.
Von Personalverantwortlichen hört man immer wieder, dass sie sich anstelle von aufwändigen Auswahltests auf ihre Erfahrung und ihr Bauchgefühl verlassen. Sollten immer Einstellungstests zum Einsatz kommen? Oder reicht auch ein einfaches Vorstellungsgespräch aus?
Leider verwechseln manche Personalverantwortliche Erfahrung mit Validität. In vielen Untersuchungen wurde nachgewiesen, dass die Aussagekraft einfacher, intuitiv geführter Auswahlgespräche durchschnittlich gering ist und in praktisch allen Fällen gesteigert werden kann, wenn man sie durch kontrollierte Verfahren wie psychologische Tests ergänzt. Anders sieht es bei hochstrukturierten und anforderungsbasierten Einstellungsinterviews aus, die nach testtheoretischen Prinzipien entwickelt und geprüft wurden. Ihre prognostische Validität kann mit den besten Tests konkurrieren und übertrifft die des typischen Assessment Centers.
Dass Auswählende von ihrer intuitiven Auswahlentscheidung so überzeugt sind, liegt unter anderem daran, dass sie nicht erkennen können, wenn sie lediglich den zweit- oder drittbesten Bewerber auswählen, den besten aber wieder nach Hause schicken. Es gibt Daten, die zeigen, dass die Entscheidungssicherheit eines Auswählenden mehr über seine Selbstsicherheit aussagt als über die Richtigkeit seiner Entscheidung. In anderen Bereichen, zum Beispiel der Medizin, schätzt man zwar auch die intuitive Diagnostik, käme aber nicht auf den Gedanken, deshalb auf wissenschaftlich geprüfte Diagnoseverfahren zu verzichten. Hier wie in der Personalpsychologie sind übrigens die Unterschiede in den diagnostischen Fähigkeiten erheblich. Deshalb sollte man auch die Auswählenden auswählen – oder mehr standardisierte Methoden einsetzen.
Wann ist ein Personalauswahlverfahren fair?
Wenn von Fairness die Rede ist, möchte ich gerne mehrere Fairness-Aspekte unterscheiden. Der erste ist die statistische Fairness. Fair kann ein Diagnoseverfahren nur sein, wenn es valide ist, also wirklich das misst, was beabsichtigt ist, und nicht allein die Sympathie oder dem Aberglauben der Durchführenden folgt. Unfair wäre in diesem Sinne eine Auswahl nach astrologischen Konstellationen. Die Graphologie ist nicht weit hiervon entfernt.
Das zweite Prinzip ist die biographische Fairness. Damit ist gemeint, dass jemand nicht aufgrund von Verdiensten seiner Vorfahren, etwa dem sozialen Stand der Eltern, ausgewählt werden soll, sondern aufgrund eigener Verdienste. Das ist schwieriger, als es sich anhört, weil es sehr fraglich ist, wie sehr jemand für seine Intelligenz oder seine Selbstkontrolle verantwortlich ist. Aber das Prinzip kann jedenfalls verhindern, dass jemand vor allem deshalb eingestellt wird, weil zum Beispiel schon sein Vater Mitglied im gleichen Golfclub war.
Gleichermaßen wichtig ist das Prinzip der prozeduralen Fairness. Das bedeutet, dass ein Bewerber als gleichrangiger Mitmensch behandelt werden soll und nicht als Bittsteller. Er hat einen Anspruch auf wahrhaftige Information über die Organisation und den fraglichen Arbeitsplatz, das Diagnoseverfahren sollte in Inhalt, Ablauf und Interpretation transparent sein. Der Diagnostizierte sollte in der Lage sein, Kontrolle über sein eigenes Verhalten und die Situation zu behalten – was zum Beispiel in Interviews und Arbeitsproben mehr gegeben ist als bei Tests –, und er sollte schließlich offenes und gleichwohl rücksichtsvolles Feedback über sein Abschneiden bekommen. Ich habe das Prinzip der prozeduralen Fairness unter dem Begriff „Soziale Validität“ vor Jahrzehnten von einem Konzept des sozialen Kontrakts aus meiner Arbeit über „Ethische Probleme psychologischer Forschung“ abgeleitet. Manchmal wird „Soziale Validität“ oder „Soziale Qualität“ durch „Akzeptanz“ ersetzt, das ist meiner Ansicht nach allerdings unzureichend. Zuweilen hält man etwas für akzeptabel, wird aber tatsächlich über den Tisch gezogen.
Aktuelle Studien beschäftigen sich mit der Produktivität von gemischten Arbeitsteams, zum Beispiel jüngere und ältere Arbeitnehmer. Kann man durch Personalauswahl gezielt dem Anspruch nach mehr Diversität gerecht werden?
Die Diversitätsbewegung hat zwei Quellen, eine organisationspsychologische und eine sozialpolitische. Man sollte sie nicht durcheinanderbringen. Aus organisationspsychologischer Sicht verspricht man sich Kreativitätsgewinn, Anreicherung der Tätigkeit und eventuell auch erhöhte Produktivität durch die Bildung heterogener Teams. Die sozialpolitische Seite besteht im Bemühen, potenziell benachteiligte Personengruppen besser in den Arbeitsprozess einzubeziehen, beispielsweise ältere Menschen und Migranten.
In meiner eigenen Arbeitsgruppe haben wir vor einigen Jahren eine größere Studie mit älteren Arbeitslosen durchgeführt. Wir wollten herausfinden, welche Fähigkeiten bei älteren Menschen vorhanden sind, die helfen, ihre Defizite in der Merkfähigkeit, in Fremdsprachenkenntnissen und im Umgang mit neuen Technologien zu kompensieren. Wir fanden, dass in den Bereichen Kunden- und Serviceorientierung, Gewissenhaftigkeit, berufliche Leistungsmotivation und Integrität ältere Menschen jüngeren durchschnittlich überlegen sind, und deshalb gute Aussichten der Wiedereingliederung in Berufen bestehen, in denen es auf diese Eigenschaften ankommt.
Was raten Sie Unternehmen für ihre Auswahlverfahren, wenn sie die Diversität steigern wollen?
Unternehmen werden davon profitieren, wenn sie verstärkt Personengruppen ansprechen, die bisher wenig beachtet wurden, und wenn sie bei ihrer Eignungsdiagnostik vor allem nach den Stärken der Bewerber suchen – auch nach weniger offensichtlichen. Es verbindet sich ausgezeichnet mit dem Fairnessprinzip, wenn man beispielsweise bei Menschen aus anderen Sprachkulturen statt sprachlastiger Verfahren Tests und Arbeitsproben einsetzt, die ihre technische Begabung und Lernfähigkeit prüfen. Wenn man die Ziele der Zusammenarbeit durchdacht hat, kann man gleichzeitig auch die passenden Maßnahmen der Personalentwicklung planen, und zwar nicht nur für Einzelpersonen, sondern für ganze Teams. Dazu gehören etwa auch Kooperationstrainings.
Herr Schuler, wie ist eigentlich Ihr Interesse am Forschungsbereich „Berufseignungsdiagnostik“ entstanden?
Nach so langer Zeit ist es nicht einfach, diese Frage zutreffend zu beantworten, denn wir wissen ja inzwischen, dass unser Gedächtnis zu munteren Konstruktionen neigt, die früheres Erleben im Lichte unseres seither erworbenen Wissens und unserer derzeitigen Lebenssituation interpretieren. Ich will es trotzdem versuchen: Erstens habe ich schon als Kind über die großen Unterschiede zwischen den Menschen gestaunt und wollte die Beweggründe für ihr Verhalten kennenlernen. Später im Studium habe ich mich dementsprechend intensiv mit Persönlichkeitspsychologie, insbesondere mit differentieller Psychologie, beschäftigt.
Zum zweiten war und bin ich an sehr vielen Bereichen interessiert. Schon in den Schulferien habe ich mir jedes Mal eine andere Beschäftigung gesucht, vom Ausfahrer bis zum Filmvorführer. Dann habe ich neben der Psychologie auch Philosophie studiert und Vorlesungen in Volkswirtschaftslehre, Anthropologie und theoretischer Physik gehört. Als mein Sohn begann, Biochemie zu studieren, habe ich mich auch in dieses Fachgebiet eingelesen, und als kunstinteressierter Mensch habe ich immer an der künstlerischen Entwicklung meiner Tochter großen Anteil genommen. Das alles hatte kein Ziel, sondern entsprang vor allem meiner Neugier, vielleicht auch meinem Unwillen, mich auf eine Sache festzulegen. Nachträglich betrachtet, hat es aber wohl dazu beigetragen, Einsicht in die Vielfalt der Berufswelt und in die korrespondierenden Fähigkeiten und Neigungen der dort arbeitenden Menschen zu gewinnen.
Drittens schließlich war ich immer davon überzeugt, dass berufliche Leistung und Zufriedenheit, auch Lebenszufriedenheit und Lebensgestaltung insgesamt, damit zusammenhängt, ob man sich mit etwas beschäftigt, das sowohl den eigenen Interessen und Werten als auch der ganzen Persönlichkeit entspricht. Wilhelm von Humboldt, dessen Spuren ich als Mitglied der Humboldt-Gesellschaft verfolge, hat das in die schönen Worte gefasst: „Nie ist das menschliche Gemüt heiterer gestimmt, als wenn es seine richtige Arbeit gefunden hat.“ Die Berufseignungsdiagnostik bietet nun die Möglichkeit, die persönlichkeitspsychologischen Grundlagen mit dem Anwendungsfeld Berufspsychologie zu verbinden, dafür methodische Anregungen aus allen Wissensgebieten aufzugreifen, und damit etwas wissenschaftlich Interessantes und gleichzeitig praktisch Nützliches zu betreiben.