Einheit und Vielfalt der Psychologie als wertvolles Erbstück

Prof. Dr. Siegfried Preiser, Rektor der Psychologischen Hochschule Berlin (PHB)

Die Einheit der Psychologie ist ein wertvolles Erbstück – seit Jahren viel diskutiert und viel beschworen. Gerade diese Diskussion zeigt, dass sie offenbar sehr gefährdet ist. Mit Hilfe der Empfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs) für Bachelor- und für Master-Studiengänge, der jeweiligen Qualitätssiegel, der Richtlinien des BDP für die Anerkennung von Absolventinnen und Absolventen als Psychologinnen oder Psychologen sowie der Anforderungen für das EUROPSY-Zertifikat ist es tatsächlich gelungen, ein einheitliches Konzept für die Wissenschaft Psychologie aufrechtzuerhalten und damit die Basis zu schaffen für das positive Image und den Markenwert der Psychologie in der Öffentlichkeit, bei Kundinnen und Kunden, Klientinnen und Klienten.

Gleichzeitig hat die Psychologie eine ungeheure Vielfalt von Forschungs-, Entwicklungs- und Anwendungsdomänen entwickelt, vielfach in fruchtbarer Kooperation mit natur- und sozialwissenschaftlichen Nachbardisziplinen. Diese Vielfalt zeigt sich in den Fachgruppen der DGPs, den Sektionen des BDP und in fächerübergreifen- den Vereinigungen. Sie zeigt sich in den – vom Bologna-Prozess durchaus gewollten – Schwerpunktbildungen und Spezialisierungen der Master-Studiengänge, die aber mehrheitlich weiterhin als Psychologieabschlüsse wahrgenommen und anerkannt werden. Die Vielfalt der Psychologie und die jeweiligen spezialisierten Anforderungen haben jedoch auch zur Notwendigkeit geführt, spezielle Kompetenzen in Weiter- und Fortbildungen zu erwerben, z. B. in Rechtspsychologie, Verkehrspsychologie, Psychotherapie.

Einheit des Faches gerettet?

Mit dem politischen Vorhaben, Psychotherapie nicht mehr als ergänzende Spezialisierung der Psychologie zu betrachten, sondern als eigenständiges Studium von Grund auf zu konzipieren, war die Psychologie als selbstverständliche Basis der Psychotherapie und damit die Einheit der Psychologie insgesamt nach allgemeiner Auffassung bedroht – mit Ausnahme derer, die im Hintergrund intensiv an einer solchen Verselbstständigung gearbeitet hatten. Den vielen Bedenkenträgern (zu denen auch ich gehörte) muss es wie ein – hart erkämpftes – Wunder vorgekommen sein, dass letztlich ein Psychotherapiegesetz zustande gekommen ist, in dem die Psychologie als Grundlage der Psychotherapie festgeschrieben und ein „polyvalenter“ Bachelor der Psychologie als Basis für die Psychotherapieausbildung sowie für alle anderen psychologischen Schwerpunktbildungen ermöglicht wurde. Trotz vieler unterschiedlicher Auffassungen haben sich DGPs und BDP gleichermaßen für dieses unverzichtbare Ziel eingesetzt. Die Einheit der Psychologie schien gerettet, auch wenn manche Kolleginnen und Kollegen immer noch mit gewichtigen Argumenten deren Ende befürchten.

Gute Voraussetzungen an der PHB

Mit dem polyvalenten Bachelor der Psychologie als Leitbild hatte die PHB ihren Studiengang an die er- warteten Anforderungen frühzeitig angepasst und nach Verabschiedung der Approbationsordnung kurzfristig aktualisiert. Für die als verbindlich angekündigte Verfahrensvielfalt war die PHB wohl wie kaum eine andere Universität gerüstet: Sie bietet seit vielen Jahren postgraduale Master-Studiengänge mit integrierter Ausbildung zu Psychologischen sowie Kinder- und Jugendlichen-Psychotherapeutinnen und -therapeuten, und zwar in verhaltenstherapeutischen und psychodynamischen Verfahren und neuerdings auch in systemischer Therapie. Die wertvollen Ansätze und Erträge der Gesprächspsychotherapie werden wie die Konzepte der anderen wissenschaftlich anerkannten Verfahren bereits im Bachelor- und Master-Studium Psychologie und dann natürlich in den postgradualen Psychotherapieausbildungen berücksichtigt. Verfahrensbezogene und -übergreifende Psychotherapieforschung erfolgt sowohl außerhalb als auch innerhalb der Hochschul- und der Ausbildungsambulanz. An der PHB entstanden drei Standardlehrbücher mit DVD für die Praxis der psychodynamischen, der systemischen und der verhaltenstherapeutischen Psychotherapie (Brakemeier & Jacobi, 2017; Gumz & Hörz-Sagstetter, 2018; von Sydow & Borst, 2018).

Zu früh gefreut?

Nach allen euphorischen Siegesmeldungen der Fach- gruppe »Klinische Psychologie« der DGPs war dann die veröffentlichte Approbationsordnung für mich jedoch zunächst ein Schock: Die psychologischen Grundlagen der Psychotherapie im Bachelor-Studium werden mit verbindlich geforderten 25 ECTS-Kreditpunkten abgespeist. Die Grundlagenfächer haben in unserem bisherigen PHB-Studienplan entsprechend den BDP- und DGPs-Empfehlungen immerhin 120 Kreditpunkte. Auch die verbindlich geforderte Methodenausbildung liegt weit unter den Standards der Psychologieausbildung. Die nunmehr geforderte Psychologie- und Methodenlehre würden wohl auch (in einem polyvalenten Studium?) medizinische, sozial- oder erziehungswissenschaftliche Fachbereiche über eine Professur oder auch nur über Lehraufträge problemlos erbringen können. Hier also liegt die Gefahr, dass die Psychotherapie doch noch aus ihrer Basis- und Mutterwissenschaft heraus- gelöst werden könnte, was mir – anders als Prof. Dr. Cord Benecke (2020) – sowohl im Bachelor- als auch im Master-Studium als fatal erschiene.

Ambivalenz und Wechselbad der Gefühle

Der gesamte Diskussions- und Planungsprozess der Psychotherapieausbildung war bei mir und sicher auch bei vielen anderen mit einem emotionalen Wechselbad verbunden. Ich möchte die wichtigsten Stationen nachzeichnen, weil daraus einerseits die Meinungsdifferenzen und Gräben der Vergangenheit nachvollziehbar werden und andererseits aus den vergangenen Hoffnungen und Enttäuschungen Handlungsoptionen für die Gegenwart abgeleitet werden können: Was können wir tun, um die Optionen und Chancen des Psychotherapiegesetzes optimal qualitätssichernd zu nutzen, und was müssen wir tun, um Risiken und mögliche bedrohliche Nebenwirkungen zu minimieren?

Aktuelle Herausforderungen und Aufgaben

Die offene Diskussion unterschiedlicher Interessen, Ziele und Situationsanalysen ist die beste Basis dafür, Einseitigkeiten, Voreingenommenheiten und Illusionen zu minimieren. Es gibt zahlreiche gemeinsame Aufgaben aller psychologischen wissenschafts- und berufspolitischen Akteure, um qualitätsgesicherte psychotherapeutische Angebote für die Gesellschaft bereitzustellen und dabei die ebenso wichtigen schul-, gesundheits-, umwelt-, rechts-, verkehrs-, wirtschafts- und organisationspsychologischen sowie politisch-psychologischen Beiträge nicht zurückdrängen zu lassen:

  • Die Bedeutung der Psychologie für die Qualität der Leistungen in allen genannten Handlungsfeldern muss offensiv vertreten, aber auch ständig neu erarbeitet werden.

  • Eine angemessen psychologisch fundierte Psychotherapiepraxis muss in der Öffentlichkeit und bei der potenziellen Klientel als Qualitätshinweis oder besser Qualitätsnachweis wahrgenommen werden.

  • Die komplexen wechselseitigen Beziehungen zwischen Arbeit, Umwelt und Verkehr, gesellschaft- lichen Rahmenbedingungen, rechts- und gerechtigkeitsorientierten Lebenssituationen, körperlicher und seelischer Gesundheit, Wohlbefinden, Bildung, Persönlichkeits- und Kompetenzentwicklung erfordern die Sicherstellung einer inhaltlichen Vernetzung der Grundlagenfächer und aller Anwendungsgebiete.

  • Dem Grundprinzip der Einheit von Forschung und Lehre entsprechend muss darauf geachtet werden, dass die Vermittlung von Fachwissen über alle wissenschaftlich anerkannten Verfahren und alle jeweiligen Neuentwicklungen von Personen geleistet wird, die eine besondere verfahrensbezogene Forschungs- und Praxisexpertise besitzen. Diese erfordert in der Regel eine verfahrensbezogene zertifizierte Ausbildung bzw. Approbation.

  • Die wissenschaftlich fundierte Weiterbildung sollte wie bisher von qualifizierten psychologischen Institutionen geplant und koordiniert werden.

Auf diesen Wegen können wir die Einheit der Psychologie als Fach und als Grundlage für unser Handeln in der Gesellschaft erhalten, ohne die Vielfalt psychologischer Forschungsrichtungen und Berufsfelder einzuschränken und ohne Barrieren für interdisziplinäre Beziehungen in der Wissenschaft und in der Praxis aufzubauen

Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen Report Psychologie, das Heft kann hier bestellt werden: https://www.psychologenverlag.de/Produkte/dCatID/6/pid/780/backLink/

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