Einblicke in die Beratung von Menschen aus der LGBTQI*-Community

Silvio Paasch ist 33 Jahre alt, studierter Psychologe und macht seit drei Jahren die Weiterbildung zum Psychotherapeuten. Seit zwei Jahren arbeitet er in einer Online-Beratung, davor in einer „analogen“ Beratung. Anfang 2021 hat er den Schritt in die Selbstständigkeit gewagt und bietet psychologische Beratung und Coachings mit Blick auf Diversität an. Seit Anfang Juni ist er Mitglied im BDP.

Ihre Online-Beratung richtet sich speziell an Klient:innen aus der LGBTQI*-Community – was hat Sie dazu bewogen?

Silvio Paasch: Meine Erfahrung – insbesondere aus der Arbeit mit trans*Menschen – zeigt mir, dass viele Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen Berührungsängste haben, was das Thema angeht. Das ist verständlich, da oft Unsicherheit oder fehlendes Wissen diesbezüglich existiert. Ich finde jedoch, dass LGBTQI* bereits sehr marginalisierte Gruppen sind, die dann auch noch durch unser Gesundheitssystem „durchmüssen“ und mit weiteren invalidierenden Erfahrungen konfrontiert sind. Gleichzeitig fehlte es mir persönlich an Diversität und Vielfalt im psychologischen Bereich. Gerade die Themen rund um Sexualität, Identität, Selbstwert und Anderssein interessieren mich. Hier gibt es tatsächlich eine ganz große Versorgungslücke und ich möchte den Leuten zeigen, dass es bereits spezielle Konzepte für LGBTQI* und andere vulnerable Minderheiten gibt und, dass wir Psycholog:innen dafür sensibilisiert sind.

Parallel muss man sagen, dass das Gesundheitssystem lange nicht sehr hilfreich war, besonders was Schwule, Lesben sowie trans*Menschen – aber auch was die Begleitung von People of Color angeht. Sie alle wurden lange marginalisiert, vergessen oder Verhaltensweisen, die von der „Norm“ abwichen teilweise als krank angesehen. Wir leben jetzt in einer Gesellschaft, die sich immer mehr differenziert und dabei auch offener wird. Auf der einen Seite ist es wichtig, dass alle Menschen gleichberechtigt sind, auf der anderen Seite ist dieses „Anderssein“ ja auch etwas Besonderes, das mich in meiner Identität ausmacht.

Beobachten Sie bestimmte Störungsbilder oder Probleme, die sehr spezifisch für die Community sind?

Silvio Paasch: Vieles hat zu Beginn mit „Minderheitenstress“ zu tun, weil man neben der Beschäftigung mit sich selbst, auch noch mit dem Blick der Gesellschaft und stellenweise auch mit Diskriminierung umgehen muss. Wie gehe ich mit meiner sexuellen Orientierung am Arbeitsplatz um? Traue ich mich, meine Sexualität auszudrücken oder verstecke ich das? Wie kommuniziere ich, dass ich einen Mann als Mann habe? Das sind typische Fragen, die sich meine Klient:innen stellen. Aber auch: Wie männlich oder weiblich muss ich sein? Wobei das natürlich auch ein Thema ist, was nicht nur LGBTQI* bewegt. Es dreht sich in meinen Beratungen sehr viel um Erwartungen und den Umgang mit diesen. Da nehme ich gerne eine systemische Perspektive ein, denn der gesellschaftliche Kontext muss einbezogen werden.

Die Behandlung von typischen Erkrankungen wie Depression, Angststörungen und Abhängigkeiten an sich ist natürlich ähnlich wie bei anderen Personengruppen. Allerdings gibt es gibt spezielle Phänomene, die auffallen: Es geht viel um Scham, darum, dass die anderen vielleicht „Recht haben könnten“, dass einem die eigenen Gefühle abgesprochen werden (Stichwort Gaslighting). Ich sehe meine Aufgabe darin, die Menschen darin zu begleiten, ihre Empfindungen zu akzeptieren und auch darüber zu sprechen.

Gibt es bestimmte Theorien, die Sie anwenden?

Silvio Paasch: Ganz lange gab es kaum Forschung über die psychische Gesundheit von LGBTQI*, das beginnt erst seit ein paar Jahren. Es gibt spannende Therapieforschungsprojekte in den USA dazu z.B. ESTEEM (Effective Skills to Empower Effective Men) für schwule Männer oder aber auch EQuIP (Empowering Queer Identities in Psychotherapy), welches sich speziell an lesbische und trans*gender Bedürfnisse richtet. Was wir wissen ist, dass LGBTQI* höhere Auffälligkeiten für psychische Störungen aufweisen als die cis-heteronormative Vergleichsgruppe.

Von theoretischer Seite arbeite ich mit dem sogenannten Konzept „Velvet Rage“ von Alan Downs, einem kalifornischen Therapeuten, der auch eines der ersten Therapiezentren für die Community eröffnete. Diese Theorie bezieht sich hauptsächlich auf schwule Männer. Sie geht davon aus, dass die Fremdheitserfahrungen in einer heteronormativen Welt während der Kindheit zu verinnerlichter Scham führen. Um diese Scham und den damit verbundenen Ärger bei Invalidierung zu kompensieren, kann ein übermäßiges Streben nach Leistung und Erfolg entstehen. Zum Teil wird sich auch in Substanz- und Verhaltenssüchte geflüchtet. Die Betroffenen können nach Status streben, auch entgegen der eigenen Werte, um sich selbst etwas zu beweisen.

Dann gibt es das Minderheiten-Stress-Modell nach Ilan H. Meyer, welches ich häufig als Erklärungsmodell nutze. Dieses geht kurz gefasst davon aus, dass die Mehrheitsgesellschaft Erwartungen an Minderheiten stellt, welche Stress auslösen, da diese oft nicht auf die individuelle Lebenswelt passen. Dies kann dauerhaft zu psychischen Symptomen führen. Der gesellschaftliche Kontext verstärkt weiterhin diese Majorität und invalidiert die Minderheit doppelt. 

In meinen Therapien versuche ich viel, die Menschen erst einmal anzunehmen, sie zu validieren, ihre Perspektive zu verstehen und dann auch zu re-framen – was sind die Stärken am Anderssein? Es geht viel auch um die Arbeit mit Ressourcen.

Können Sie bestimmte Methoden empfehlen?

Silvio Paasch: Alles was wir in der Psychotherapie zur Verfügung haben, kann auch hier zur Anwendung kommen: Achtsamkeits- und Dankbarkeitsübungen, Selbstbeobachtung, Kognitive Umstrukturierung oder emotionsfokussierte Arbeit. Alan Downs orientiert sich auch viel an den Methoden der DBT. Ich arbeite sehr schematherapeutisch sowie akzeptanzbasiert und überlege mit den Klient:innen gemeinsam, welche Anteile sie z. B. von anderen übernommen haben. Außerdem geht viel um Bedürfnisse und persönliche Werte.

Aber eigentlich haben wir in der Psychotherapie alle Methoden zur Hand, um mit Menschen aus der LGBTQI*-Community zu arbeiten. Wir müssen uns lediglich bewusst machen, dass andere Menschen ein wenig anders leben und, dass es hier und da andere Konzepte gibt, die wir berücksichtigen müssen.

Wie haben Sie das im Studium empfunden? Wurde auf das Thema eingegangen?

Silvio Paasch: Ich habe das Gefühl, Diversität ist ein Thema, welches komplett ausgeklammert wurde. Ich hatte auch einmal eine Patientin mit Migrationshintergrund, die total verzweifelt war, weil sie den Eindruck hatte, dass kein:e Therapeut:in ihre Situation nachempfinden kann. Ich habe von vielen gehört, dass sie mit sehr vorurteilsvollen Sätzen konfrontiert wurden. Das sind natürlich Patient:innen-Aussagen – nichtsdestotrotz scheint es durchaus der Fall zu sein, dass unüberlegte Sätze auch von Psychotherapeut:innen geäußert werden. Ich glaube, das passiert einfach, wenn man sich bisher wenig mit den eigenen Privilegien der Mehrheit auseinandersetzen musste. Gerade wenn man mit vulnerablen Gruppen arbeitet, muss man sich immer wieder klar machen, in welch einer vorteilhaften Position man sich selbst befindet – und das dies nicht selbstverständlich ist.

Was für Tipps haben Sie für Psycholog:innen und Psychotherapeut:innen, die möglicherweise noch nicht so viele Berührungspunkte mit dem Thema hatten?

Silvio Paasch: Ich glaube zunächst ist es wichtig, sich die eigenen Unsicherheiten einzugestehen und viel nachzufragen. Das ist ja das Schöne im therapeutischen Prozess, dass, wenn man nachfragt, auch die Klienten noch einmal darüber nachdenken. Es kann manchmal vorkommen, dass die Patient:innen keine Lust darauf haben, weil sie sich möglicherweise schon sehr oft erklären mussten. Dann hilft es, zu erklären, wie sehr man interessiert ist und das Thema sehr spannend findet, es verstehen und sie unterstützen möchte. Natürlich ist es immer sinnvoll, Fortbildungen zu machen oder Bücher zum Thema lesen, hier gibt es auch immer mehr Material speziell für Therapeut:innen.

Ansonsten hilft es offen zu sein, neugierig zu sein, sich weiterzubilden. Aber auch sich klar zu machen, dass es viele andere Arten des Zusammenlebens gibt. Dass Beziehungen aus mehr als zwei Personen bestehen können, dass Sexualität mehr sein kann als Mann und Frau und man versucht, die eigene Vielfalt als Ressource zu verstehen. Ich habe manchmal den Eindruck, Psychotherapeut:innen haben oft einen sehr defizitären Blick auf die Welt und eigentlich sind das doch Aspekte, die uns gesellschaftlich weiterbringen können.

Sie bieten konkret aktuell Online-Beratung an: welche Vorteile sehen Sie bei dieser Form der Beratung?

Silvio Paasch: Die Online-Beratung ist vor allem dann vorteilhaft, wenn man mit Menschen zu tun hat, die nicht so einfach Zugang haben – etwa zu einer so diversen Szene wie wir sie hier in Berlin vorfinden. Ich habe ein, zwei Klient:innen, die sehr ländlich wohnen, die dadurch Zugang zu psychologischer Hilfe erhalten. Es ist leichter und bequemer zugänglich und auch sehr flexibel. Es überrascht mich immer wieder, wie kreativ ein Online-Setting sein kann: man kann Miro-Boards [Virtuelle Online Kollaborations-Plattform] benutzen. Oder ich stelle ein Padlet [digitale Pinnwand] zur Verfügung, in das meine Klienten Texte oder Bilder einfügen können und wir diese dann besprechen. Man hat viele kreative Optionen der Vor- und Nachbereitung, aber auch während der Beratung. Beispielsweise habe ich Gefühls-Karten in der Cloud, durch die man sich am Anfang einer Sitzung durchscrollen kann. Alles, was ich sonst im „real life“ mache, kann ich auch online abbilden. Auch eigene Audiodateien können hochgeladen werden, Entspannungsübungen, Erklärvideos… die Beratung findet nicht nur in der Stunde statt, sondern man kann – wenn man das erst einmal aufgebaut hat – auf super viele Ressourcen zurückgreifen.

Gibt es auch Nachteile?

Silvio Paasch: Es ist natürlich nicht für jede Person geeignet. Mein Angebot ist ja eher ein präventives, für Menschen, die noch relativ gut durch den Alltag kommen. Online-Therapie geht auch bis zu einem gewissen Grad, ich mache das auch mit einigen Klient:innen, die umgezogen sind und wo die Suche nach einem neuen Therapeuten kompliziert gewesen wäre. Aber mit einigen Patient:innen geht das überhaupt nicht, das hängt natürlich auch von der Schwere der Diagnose ab, aber auch von der Technikaffinität.

Es gab einen Klienten, ein Familienvater, der die Beratung immer aus seinem Auto heraus wahrgenommen hat. Da kamen schon Zweifel auf, ob das so sinnvoll ist. Hier haben wir festgestellt, dass er sich so einen Rückzugsraum – außerhalb der kleinen Wohnung – gesucht hatte. In der Beratung haben wir das dann aufgegriffen, um zu schauen, wie er für sich sorgen kann? Ist es möglich, dass seine Frau in der Zeit der Beratung mit den Kindern nach draußen geht o.ä.

Gibt es Vorbehalte, da die Beratung quasi bei den Klient:innen „zuhause“ stattfindet? Stellen Sie bestimmte Regeln auf?

Silvio Paasch: Die Leute sind sehr offen, was Online-Beratung angeht. Das ist für sie völlig normal. Bevor ich anfange, sende ich meinen Klient:innen ein PDF zum Thema „Wie läuft Online-Beratung ab“. Worauf soll man achten? Zum Beispiel, dass man die Türen schließt. Dass man den Raum vorstellt – diese ganzen Regeln, die es dafür gibt.

Vielen Dank fürs Gespräch.

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Buchempfehlungen von Silvio Paasch

Generelle Werke zur Fortbildung: "Sexuelle Identitäten im therapeutischen Prozess - Zur Bedeutung von Orientierungen und Gender" (Udo Rauchfleisch, W. Kohlhammer Verlag) sowie "Sexuelle Orientierung in Psychotherapie und Beratung" (Margret, Göth, Kohn & Ralph, Springer Verlag).

Gute populäre Einstiegswerke für Therapeut:innen und Klient:innen sind "The Velvet Rage" von Alan Downs sowie "Straight Jacket" von Matthew Todd (leider nur auf Englisch).

Für die Begleitung von Trans* Menschen: "Psychotherapeutische Arbeit mit trans* Personen" (Mari Günther, Kirsten Teren & Gisela Wolf, Reinhardt Verlag)

Das Gespräch führte Louisa Tomayer.

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