Dringender Appell des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. (BDP): Investitionen in Kinder und Jugendliche jetzt – Bildung und Wohlbefinden sind auf einem historischen Tiefststand

Protestbrief

Berlin, 19. November 2025

An die Mitglieder
des Deutschen Bundestages,
der Bundesregierung und
der Landesregierungen

Die neuesten Ergebnisse des IQB-Bildungstrends 2025 sind alarmierend: Die Kompetenzen von Neuntklässler*innen in Mathematik und Naturwissenschaften erreichen einen historischen Tiefstand – mit gravierenden Folgen für Bildungschancen, psychische Gesundheit und gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Auch der jüngste UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland liefert äußerst besorgniserregende Zahlen: Über eine Million Kinder muss auf den Ersatz abgetragener Kleidung, eine beheizte Wohnung oder warme Mahlzeiten verzichten.

„41 Prozent der Achtklässlerinnen und Achtklässler verfügen lediglich über rudimentäre digitale Kompetenzen (2013: 29 %). Dabei sind Kinder aus finanziell schlechtergestellten Eltern-häusern deutlich überrepräsentiert“, beschreibt die Studie.

Gleichzeitig belegen aktuelle Studien, dass gezielte Investitionen in Kinder und Jugendliche nicht nur sozial, sondern auch wirtschaftlich hochprofitabel sind.

Und sie unterstreichen die Dringlichkeit von Reformen in Kita und Schule (siehe Anhang: Wissenschaftliche Evidenz zu Chancengleichheit und Partizipation). Die Ergebnisse zeigen: Ohne gezielte Maßnahmen werden soziale Ungleichheiten weiter reproduziert – obwohl erfolgreiche Modelle wie Familienzentren oder Mentorenprogramme bereits heute wirken.


Jetzt ist der Zeitpunkt für konsequentes politisches Handeln.

Die aktuelle Lage: Der IQB-Bildungstrend 2025 – ein Weckruf


Im IQB-Bildungstrend 2025 zeigt sich ein weiterer Leistungsabfall in allen Fächern und das in jedem Bundesland. Jede*r vierte Neuntklässler*in verfehlt die Mindeststandards für den mittleren Schulabschluss in Mathematik – ein Anstieg um 10 % seit 2018. Kein Bundesland konnte sein Niveau halten (IQB, 2025a; IQB, 2025b; Deutsches Schulportal, 2025).

Über die Hälfte der Jugendlichen zeigt kaum Begeisterung für MINT-Fächer. psychische Belastungen nehmen stetig zu (Tagesschau, 2025). Benachteiligte Kinder sind überproportional betroffen – der Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg ist in Deutschland besonders stark (IQB, 2025a; UNICEF, 2024).


Die aktuelle Lage: Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Deutschland – ein Armutszeugnis für unsere Gesellschaft


Die Zahlen sind besorgniserregend – und die Ergebnisse zeigen zwei besonders vulnerable Gruppen, nämlich die von Armut betroffenen Kinder und Jugendlichen sowie die Mädchen.

Die Kinderarmut in Deutschland stagniert auf einem vergleichsweise hohen Niveau (15 %). Kinderarmut beeinträchtigt gleich eine große Zahl von Lebensbereichen: Bildungschancen, gesellschaftliche Teilhabe, Gesundheit und soziale Beziehungen.


Weltweit haben in den vergangenen Jahren und insbesondere seit der Covid-19-Pandemie die Gesundheitsbeschwerden von Kindern und Jugendlichen deutlich zugenommen. Klagten 2014 noch 24 % der Kinder und Jugendlichen mehrfach pro Woche unter mehreren Beschwerden wie Kopfschmerzen, Bauchschmerzen oder Rückenschmerzen, waren es 2022 schon 40 %.


Was auffällt, ist die hohe Belastung von Mädchen mit psychischen Störungen in der Pubertät. Bei den 14- bis 19-jährigen Mädchen lag 2023 die stationäre Diagnoserate für psychische und Verhaltensstörungen bei 2.673 Fällen je 100.000 Einwohnerinnen und Einwohnern – etwa doppelt so hoch wie bei Jungen gleichen Alters. (Walper, S., Kuger, S., Naab, et al., 2025)


Wirtschaftlicher Output: Warum sich Investitionen rechnen


Ein Gutachten des IW Köln im Auftrag von UNICEF zeigt: Gezielte Investitionen in benachteiligte Kinder (z. B. durch das „Startchancen-Programm“) bringen Milliarden-Überschüsse für die öffentlichen Haushalte. Selbst bei Teilerfolg ergibt sich ein positiver fiskalischer Effekt von 36,3 Mrd. Euro – bei Investitionen von 20 Mrd. Euro über 10 Jahre. Bei Ausweitung auf 40 % der Schulen steigt der Nettoeffekt auf 102,4 Mrd. Euro (Geis-Thöne & Plünnecke, 2024).


Frühkindliche Bildung (z. B. in Familienzentren) wirkt lebenslang. Jeder investierte Euro spart später 7 – 10 Euro an Sozial- und Bildungsausgaben. Familienzentren in NRW, Hannover und Bremen zeigen, wie Bildung, Beratung und soziale Unterstützung erfolgreich verknüpft werden können (nifbe, 2025); Familienzentrum NRW, 2025). Die Einigung auf die Umsetzung des weiterentwickelten KiTa-Qualitäts- und -Teilhabeverbesserungsgesetzes (KiQuTG) für 2025 und 2026 ist ein erster Schritt. Dennoch bleiben zu viele Kinder und Jugendliche ohne Förderung.


Unsere Forderungen: Konkrete Maßnahmen für eine lebenswerte Zukunft

  1. Armutsbekämpfung und soziale Sicherheit
    Einführung einer echten Kindergrundsicherung, die Armut wirksam verhindert und Teilhabe ermöglicht (UNICEF, 2024). Kostenfreie Bildung von der Kita bis zum Schulabschluss – inklusive Schulmaterial, Mittagessen und außerschulischer Angebote.
     
  2. Bildung: Chancengerechtigkeit und psychische Gesundheit
    Flächendeckende Schulpsychologie und Sozialarbeit an allen Schulen – mit ausreichend Personal und verbindlichen Standards (Geis-Thöne & Plünnecke, 2024, Schulpsychologische Versorgung 2024 (Quelle: BDP)
    Ausbau des „Startchancen-Programms“ auf mindestens 40 % der Schulen, wie vom IW Köln empfohlen (Geis-Thöne & Plünnecke, 2024). Reform des Schulsystems hin zu mehr Inklusion, individueller Förderung und digitaler Bildung.Ausbau der frühkindlichen Entwicklungsförderung in Institutionen wie zum Beispiel den Familienzentren.
     
  3. Psychische Gesundheit: Prävention und Versorgung
    Verpflichtende Präventionsprogramme an Schulen (z. B. Gesundheitskompetenz, Digital- und Medienkompetenz, Stressbewältigung, Suchtprävention). Mehr Therapieplätze und kürzere Wartezeiten durch Ausbau der Kinder- und Jugendlichenpsychotherapie.
     
  4. Gesellschaftlicher Zusammenhalt: Teilhabe und Mitbestimmung
    Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz – als verbindliche Grundlage für alle politischen Entscheidungen (UNICEF, 2024, BDP, 2024), Beteiligung von Kindern und Jugendlichen an politischen Prozessen (z. B. Jugendparlamente, Klimagremien).
     

Fazit: Jetzt handeln – für eine zukunftsfähige Gesellschaft
 

Die UNICEF- und IQB-Daten 2025 sind ein Alarmsignal, die ökonomischen Analysen ein Hand-lungsauftrag (Walper, S., Kuger, S., Naab, T. et al., 2025; IQB, 2025a; Geis-Thöne & Plünnecke, 2024). Investitionen in Kinder und Jugendliche sind die wirksamste Investition in die Zukunft – sozial, wirtschaftlich und demokratisch.

Wir fordern Sie auf: Priorisieren Sie im Haushalt 2026 Investitionen in Kinder und Jugendliche – nicht als Kostenfaktor, sondern als Zukunftsinvestition. Setzen Sie die UNICEF-Empfehlungen und die IQB-Erkenntnisse um – mit verbindlichen Strukturen für Bildung, psychische Gesundheit und Teilhabe.
 

Die Zeit zu handeln ist jetzt.
Die Jüngsten in unserer Gesellschaft sollten es uns wert sein – auch ohne laute Lobby.

 

Mit freundlichen Grüßen

Thordis BethlehemHeike Bott
Präsidentin BDPVorstand Fachsektion Verband Psychologischer Psycho-therapeutinnen und Psychotherapeuten (VPP im BDP)
 Präsidiumsbeauftragte „Kindeswohl und Kinderrechte“

Hier geht es zur Pressemitteilung.


Anhang: Wissenschaftliche Evidenz zu Chancengleichheit, Beteiligung und Partizipation in Kita und Schule (2024/2025)
 

Partizipation in Kita und Schule

Die BiKA-Studie (2025) zeigt, dass die Möglichkeiten zur Selbst- und Mitbestimmung von Kindern in Kitas nicht zufriedenstellend sind, besonders in Routinesituationen. Die Partizipationsqualität hängt stark von der Haltung der Fachkräfte ab (nifbe, 2025; Kompetenznetzwerk DeKi, 2025). Eine gut umgesetzte partizipative Unterrichtsgestaltung (z. B. Klassenräte) ist elementar, denn sie fördert Zugehörigkeit, Solidarität sowie Identitätsentwicklung und redu-ziert Ausgrenzungserfahrungen (Zeitschrift für Inklusion, 2024).


Chancengleichheit: Systematische Benachteiligungen

Nur 27 % der Kinder aus Familien ohne Abitur oder mit niedrigem Einkommen besuchen ein Gymnasium. Skandinavische Länder zeigen, dass längeres gemeinsames Lernen (bis Klasse 10) die Chancengleichheit erhöht (Deutsches Schulportal, 2024; ifo Institut, 2024). Das deutsches Kita-System trägt nicht ausreichend zur Verringerung sozialer Ungleichheiten bei (Paritätischer Wohlfahrtsverband, 2025). Besonders benachteiligt sind Kinder aus armutsbetroffenen oder zugewanderten Familien (Aktuelle Sozialpolitik, 2025).


Erfolgreiche Praxisbeispiele

Kinder, die Kitas mit angebundenem Familienzentrum besuchen, zeigen bessere Sprachkompetenzen und soziale Integration (Familienzentren in Nordrhein-Westphalen, 2025). Eine Vernetzung mit Eltern und Sozialraum ist dabei entscheidend (Kommunales Bildungsmonitoring, 2024). Systematische Begleitung von benachteiligten Schüler*innen erhöht die Wahrscheinlichkeit eines höheren Schulabschlusses (Young Economic Solutions, 2024).


Empfehlungen der Ständigen Wissenschaftlichen Kommission der KMK (2024)

Einfacherer Zugang zu Familienbildung, Ausbau der frühkindlichen Bildung ab dem ersten Lebensjahr und passgenaue Fördermaßnahmen für Kinder mit zusätzlichem Bedarf (Kommunales Bildungsmonitoring, 2024).

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Schlagworte:
Menschenrechte
Kinder- und Jugendliche
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