BDP im Gespräch mit Prof. Dr. Inga Schalinski zum Thema „Traumata und ihre Folgen. Wie wir Menschen mit traumatischen Erfahrungen umgehen – und wann sie uns krank machen“

Im Februar 2023 jährte sich der Krieg gegen die Ukraine und auch in anderen Regionen der Welt sind Menschen mit Krieg und Vertreibung konfrontiert. Im selben Monat erschütterte die größte Erdbebenkatastrophe der letzten 100 Jahre Gebiete in der Türkei und Syrien. Betroffene solcher Ereignisse, aber auch Familienangehörige, Freunde und Helfer bleiben oft traumatisiert zurück. Die Präsidentin des BDP, Thordis Bethlehem, sprach mit Prof. Dr. Inga Schalinski, Professorin für Klinische Psychologie und Traumatherapie an der Universität der Bundeswehr München, zum Thema „Traumata und ihre Folgen. Wie wir Menschen mit traumatischen Erfahrungen umgehen – und wann sie uns krank machen“.

In Ihrem Artikel im BDP-Verbandsmagazin report psychologie zum Thema Krieg und seine Folgen geben Sie und Ihre Co-Autor*innen eine Einschätzung zur dramatischen Situation in der Ukraine. Welche Auswirkungen auf die psychische Gesundheit hat der Krieg und seine Folgen auf die Menschen, die solchen traumatischen Erlebnissen ausgesetzt sind? Wie beeinflussen solche Ereignisse auch die zwischenmenschlichen Beziehungen? Welche Risiko- und welche Schutzfaktoren konnten Sie identifizieren?             

Kriege haben negative Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Menschen, die solchen traumatischen Ereignissen und Stressoren ausgesetzt sind. Sie können zu Symptomen von Traumafolgestörungen führen, wie beispielsweise Posttraumatische Belastungsstörung, Depressionen, Angstzustände und Schlafstörungen. Schätzungen lassen vermuten, dass ca. ein Drittel der ukrainischen Bevölkerung aktuell mit den psychischen Folgen lebt.

In dem Artikel befassen wir uns mit einem sehr robusten Risikofaktor für Traumafolgestörungen, der Anzahl verschiedenartiger, traumatischer Erfahrungen. Mit zunehmender Anzahl solcher Ereignisse über die Lebensspanne steigt das Risiko, eine Traumafolgestörung zu entwickeln, und im Krieg kumulieren sich eine Vielzahl von traumatischen Erfahrungen. Das nennen wir den Building-Block-Effekt (Bausteineffekt). Dazu kommen viele Stressoren, die den Alltag der Betroffenen erschweren wie mangelnder Zugang zu Nahrung, medizinischer Versorgung und Verlust des Arbeitsplatzes.

In der Folge des Krieges steigt auch die Inzidenz von interpersoneller Gewalt in Familien, wie beispielsweise Missbrauch und Vernachlässigung von Kindern, interpersoneller Gewalt in Beziehungen und den zusammenlebenden sozialen Gruppen. Der Krieg prägt somit individuelle Biografien ganzer Generationen und über intergenerationaler Effekte auch darüber hinaus.

Auf der anderen Seite kann soziale Unterstützung und Anerkennung schützend wirken, insbesondere für Personen mit einer geringen Anzahl traumatischer Erfahrungen. In Kriegsgebieten gibt es eine bestimmte Anzahl von traumatischen Erfahrungen, die als Fixpunkt bezeichnet wird. Eine Studie, die von Prof. Frank Neuner, Kolleginnen und Kollegen bei ugandischen Binnenflüchtlingen durchgeführt wurde, ergab beispielsweise eine Anzahl von 28 verschiedenen, traumatischen Erfahrungen, bei der alle Betroffenen Traumafolgestörungen aufwiesen, unabhängig von schützenden Faktoren. Für Betroffene mit einer höheren Anzahl verschiedenartiger, traumatischer Erfahrungen ist der Zugang zu einer adäquaten, psychotherapeutischen Behandlung mit trauma-fokussierter Psychotherapie entscheidend, denn Traumafolgestörungen lassen sich vergleichsweise mit anderen psychischen Störungen sehr gut behandeln.

Auch Naturkatastrophen können schwere psychische Folgen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen, Substanzmissbrauch mit sich bringen. Inwiefern lassen sich Parallelen zum Erleben einer Naturkatastrophe wie im Februar 2023 in der Türkei und Nordsyrien ziehen? Wo gibt es Ähnlichkeiten, wo Unterschiede im menschlichen Erleben und den Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen im Vergleich zu Kriegsgeschehen?

Naturkatastrophen gehören wie auch Kriegserlebnisse zu traumatischen Erfahrungen und können zu Traumafolgestörungen führen. Ähnlichkeiten liegen beispielsweise in den körperlichen und emotionalen Reaktionen, die in dem Moment der Bedrohung den Betroffenen helfen, die Situation zu überleben. Dabei kann es hilfreich sein zu flüchten oder zu kämpfen, zu erstarren oder mit einer körperlichen Notabschaltung zu reagieren, die mit einem Verlust der äußeren und inneren Wahrnehmung, emotionaler Taubheit und einem Abfall des Herzschlags, des Blutdrucks bis hin zur Ohnmacht einhergehen kann. Sowohl Naturkatastrophen als auch Krieg können mit schweren Verletzungen von den Betroffenen selbst, Personen in ihrem sozialen Umfeld oder sogar dem Tod einhergehen. Außerdem gibt es in betroffenen Gebieten von Naturkatastrophen und Kriegen einen erschwerten Zugang zu Nahrung, medizinischer Versorgung und Mangel an Hygiene. Auch Wohnungslosigkeit und damit Schutzlosigkeit und Verlust des Arbeitsplatzes verschärfen die Situation. Zudem wirken sich Naturkatastrophen und Kriegserlebnisse auf die Gemeinschaft und die sozialen Beziehungen aus. Dabei kann dies die Gemeinschaft stärken, aber auch zu negative Konsequenzen führen wie Verlust des Vertrauens in Menschen oder die Politik.

Allerdings besteht ein großer Unterschied darin, dass Naturkatastrophen in der Regel nicht direkt durch menschliches Handeln verursacht werden, während Kriege und bewaffnete Konflikte durch menschliche Handlungen entstehen und längere Zeit andauern können. Die Naturkatastrophe trifft in Nordsyrien auf Menschen, die seit über einem Jahrzehnt vom Bürgerkrieg betroffen sind und die wenig Unterstützung nach den Erdbeben erhalten haben. Allerdings sind die vom Erdbeben betroffenen Gebiete in der Türkei auch von monatelangen Straßenkämpfen im Rahmen des Kurdenkonflikts und Armut geprägt, und viele Geflüchtete aus Syrien haben in der Türkei Zuflucht gefunden. Letztendlich ist es wichtig, was ein Individuum erlebt und wie viele verschiedene traumatische Erfahrungen kumuliert worden sind und welche protektiven Faktoren wahrgenommen werden, um das Risiko abzuschätzen.

Sie haben Schutz- und Risikofaktoren definiert, die das Individuum im Falle eines Kriegsereignisses vor Traumafolgen schützen oder eben deren Entwicklung begünstigen können. Inwiefern lassen sich diese Faktoren auf das Erleben von Naturkatastrophen übertragen?

Auch für die Betroffenen der Naturkatastrophe können wir den Building-Block-Effekt heranziehen. Wir können davon ausgehen, dass mit dem Erleben der Naturkatastrophe für die Menschen in den betroffenen Gebieten die kumulative Belastung durch traumatische Erfahrungen und den zusätzlichen alltäglichen Stressoren erhöht wurde und damit auch die Wahrscheinlichkeit für die Entwicklung von Traumafolgestörungen generell gestiegen ist. Auf der einen Seite ist es unwahrscheinlich, Traumafolgen zu entwickeln, wenn eine Person nur eine oder wenige traumatische Erfahrungen gemacht hat, in einem liebevollen Elternhaus aufgewachsen ist und eine gute soziale Unterstützung erfährt. Auf der anderen Seite sind Betroffene der Naturkatastrophe, die bereits Traumavorerfahrungen wie Straßenkämpfe, Kriegserlebnisse, häusliche Gewalt oder andere traumatische Erlebnisse wie Autounfälle hatten, gefährdeter, Traumafolgen zu entwickeln.

Viele in Deutschland Lebende sind insofern durch die Erdbebenkatastrophe betroffen, als dass sie Angehörige, Bekannte verloren haben und/oder aus der betroffenen Region stammen. Wie wirkt sich die Nachricht und Berichterstattung über eine solche Katastrophe in der Ferne auf die in Deutschland lebenden Angehörigen und Betroffenen aus?

Die Berichterstattung über die Katastrophe in der Ferne kann bei den in Deutschland lebenden Angehörigen und Betroffenen verschiedene Reaktionen hervorrufen. Zunächst kann die Berichterstattung eine Quelle von Angst und Stress sein und belastend wirken. Die Betroffenen können besorgt sein, ob ihre Angehörigen oder Freunde sicher sind. Möglicherweise versuchen sie, sie auf Bildern zu identifizieren und sorgen sich darum, wie Angehörige und Freunde mit den Folgen der Katastrophe umgehen oder haben sogar die Nachricht erhalten, dass Angehörige bei der Naturkatastrophe ums Leben gekommen sind. Letzteres zählt auch als traumatisches Erlebnis. Diese Belastungen können zu Schlafstörungen, Ängsten und anderen psychischen Beschwerden führen. Darüber hinaus kann die Berichterstattung dazu beitragen, Informationen über die Situation ihrer Angehörigen und Freunde zu sammeln und einen Überblick über das Ausmaß der Katastrophe zu erhalten. Es ist wichtig zu beachten, dass die Auswirkungen der Berichterstattung auf die Betroffenen individuell unterschiedlich sein können. Einige Menschen können besser mit der Unsicherheit und dem Stress umgehen, während andere stärker davon betroffen sein können. Um die Belastungen zu reduzieren, können Betroffene versuchen, die Nachrichten und Berichterstattung zeitweise zu reduzieren, darüber zu sprechen oder auch andere Strategien, die beim Erleben von Stress helfen, wie Sport zu treiben oder gut für sich selbst zu sorgen. Sie können auch überlegen, was sie Sinnvolles aus der Ferne tun können, z. B. Spenden sammeln, den Angehörigen und Freunden beistehen, sich nach ihrem Wohlbefinden erkundigen und zuhören. Eine angemessene Unterstützung und Beratung können ebenfalls hilfreich sein, um mit den psychischen Belastungen umzugehen.

In einigen Teilen der vom Erdbeben betroffenen Gebiete kommt erschwerend hinzu, dass diese von einem (Bürger-)Krieg oder anderen gewalttätigen Auseinandersetzungen betroffen sind. Das trägt zum von Ihnen im Artikel erwähnten Building-Block-Effekt, zur Akkumulierung von traumatischen Erlebnissen, bei. Welche Interventionsansätze eignen sich für die Behandlung der Menschen, die hier in Deutschland Hilfe suchen?

Ich beziehe die Frage auf die psychotherapeutische Hilfe. Zunächst einmal geht es darum das Beratungs- oder das Psychotherapieanliegen genau zu verstehen und eine mögliche diagnostische Einschätzung des Beschwerdebildes vorzunehmen. In den ersten drei Monaten nach einem Ereignis sollten psychoedukative Informationen bereitgestellt werden wie beispielsweise die psychische Belastung als normale Reaktion auf ungewöhnliche, extreme Erlebnisse anzuerkennen. Da es menschlich ist nach traumatischen Erfahrungen darüber sprechen zu wollen, kann es wichtig sein, empathisch zu zuhören, die Person darin zu unterstützen Worte zu finden und das Erlebte mit all der Grausamkeit aufzunehmen. Auch ist es sinnvoll individuelle, günstige Bewältigungsstrategien zu erarbeiten und eindeutig ungünstige Strategien wie Drogen- und Alkoholmissbrauch und Vermeidung zu reduzieren. Wenn Betroffene darüber hinaus eine Traumafolgestörung entwickeln, ist es notwendig eine trauma-fokussierte Psychotherapie anzubieten. Beispielsweise berücksichtigt die Narrative Expositionstherapie das Kumulativ traumatischer und aversiver Erfahrungen und den individuellen Ressourcen. In den Leitlinien wir die trauma-fokussierte Aufarbeitung der biografischen Ereignisse mittels Narrativer Expositionstherapie mit als erstes Wahlverfahren empfohlen. In der Versorgungsrealität wird Betroffenen zu selten ein entsprechendes Behandlungsangebot gemacht, obwohl Traumafolgestörungen sehr gut behandelt werden können.

Was kann der BDP, was kann die Psychologenschaft tun, wo gibt es Ihrer Ansicht nach Handlungsbedarf, um Betroffene vor Ort oder hier in Deutschland zu unterstützen?

Über die Berichterstattung sensibilisiert der BDP für das Thema und kann darüber hinaus viele Psychologinnen und Psychologen erreichen, die möglicherweise Betroffene versorgen, sich fortbilden und sich bei Schulungen, Supervisionen für Fachkräfte in betroffenen Gebieten engagieren. Ich beobachte eine zunehmende Sensibilität und Offenheit für das Thema "Trauma und Traumafolgen" in Deutschland, die sich auch positiv auf die Versorgung mittels trauma-fokussierter Psychotherapie auswirken wird. Daher könnten alle Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten zu einer verbesserten Versorgungslage beitragen und unterstützen Ungerechtigkeiten zu versprachlichen. Dies bietet die Chance, gegen das endemische Ausmaß von Gewalt und den vielfältigen gesundheitlichen Konsequenzen etwas entgegenzusetzen. Wir, einschließlich der Psychologenschaft, sind Meisterinnen und Meister darin wegzuschauen, zu vermeiden, nicht über Unangenehmes zu sprechen, weil wir möglicherweise emotionale Reaktionen bei Betroffenen auslösen oder selbst Unbehagen verspüren, weil wir fälschlicherweise davon ausgehen, dass uns Dinge, über die wir nicht sprechen uns nicht verletzen können.

Weiterführende Informationen:

Unter der Rubrik Psychologie in Krisen finden Sie weitere Informationen zum Krieg gegen die Ukraine, die Erbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien sowie auch weitere globale Krisen.

Hier geht es zur Leiseprobe report psychologie 03/2023 Fokusthema "Krieg und seine Folgen".

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Kategorien:
Erdbebenkatastrophe in der Türkei und Syrien
Krieg gegen die Ukraine
BDP im Gespräch
Schlagworte:
Psychologie in Krisen
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