Die Fehler der Wende nicht wiederholen

Digitalisierung

Christa Schaffmann: Zwei sehr verschiedene Diskurse kreisen um Digitalisierung als wesentlichen Bestandteil der Disruption, um die sich der Landestag der Psychologie am 13. Juli in Stuttgart dreht. Da gibt es den euphorischen Technikdiskurs auf der einen Seite. Ihm gegenüber stehen Befürchtungen bis zur Panikmache. Wo ordnen Sie sich ein?

Prof. Dr. Thomas Kliche: Diese Diskurse fördern aus meiner Sicht Verunsicherung und Abwehr eines tiefgreifenden Wandels statt Orientierungsvermögen und Handlungsfähigkeit. Ich sehe Chancen und Gefahren gleichermaßen. Ob die Chancen überhaupt genutzt und die Gefahren abgewehrt werden können, hängt von der Fähigkeit und dem Willen zur Selbstgestaltung ab. Aus psychologischer Sicht geht es darum, die Selbstregulationsfähigkeit des Menschen und der Institutionen im Feld gesellschaftlicher Verständigung zu stärken, also konkret die Orientierungs- und Handlungsfähigkeit der Demokratie zu fördern. Das ist schwierig, solange das meiste, was zum Thema bisher veröffentlicht worden ist, sich auf dem niedrigsten Evidenzniveau bewegt, fast nur auf Experteneinschätzungen beruht, auf Fallbeispielen und punktuellen Experimenten mit kleinen Stichproben. Forschung und Forschungsgegenstand befinden sich in raschem Wandel, was aussagefähige Prognosen schwer macht. Ich versuche daher, wichtige Veränderungslinien zu verfolgen, um Handlungsfelder und Steuerungsbedarf abzuschätzen.
 

Sie haben in einem früheren Gespräch gesagt, es sei eine wichtige Aufgabe der Psychologie darüber nachzudenken, wie sozialer Wandel so gestaltet und abgesichert werden kann, dass die maßlosen Zerstörungen, zu denen es nach der Wende im Osten Deutschlands gekommen ist und die Generationen lang weiterwirken, sich nicht wiederholen.

Ich stehe zu der damaligen Aussage: Wenn die nächste Wende mit Digitalisierung, künstlicher Intelligenz und Globalisierung genauso läuft wie die deutsche Vereinigung, machen wir unseren Zusammenhalt als Gesellschaft gänzlich kaputt, selbst wenn technisch alles gelingt. Die, die den Preis für den Wandel, also die vor uns liegende Disruption bezahlen, dürfen nicht allein gelassen, sondern müssen eingebettet und getragen werden. Dafür brauchen wir gesellschaftliche Regeln. Wir müssen eine gesellschaftlich-politische Moderation für den Wandel finden, der auf uns zurollt, sodass Menschen Teilhabe und Sicherheit erleben. Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist da ein wichtiges Stichwort.
 

Dieses Fazit ist, wenn ich mich richtig erinnere, auch das Ergebnis einer Studie, die Sie im Rahmen ihrer Tätigkeit an der Hochschule Magdeburg-Stendal durchgeführt haben.

Genau betrachtet waren es sogar zwei Studien. Die eine Regionalstudie bezog sich auf gesellschaftliches Engagement in einer strukturschwachen ländlichen Region*), die andere auf Berufsbiografien von DDR-ErzieherInnen. Die Ergebnisse beider führten den beteiligten Studierenden und mir überdeutlich vor Augen, welche dramatischen Folgen die missglückte Vereinigung beider deutscher Staaten in Sachsen-Anhalt (und sicher nicht nur dort) hatte. Das sind Erscheinungen, die sich nicht nur in Wahlergebnissen zugunsten der AfD widerspiegeln. Ich denke an Apathisierung, Anomie und „politische Schiefheilungen“ wie den sich ausbreitenden Populismus. Noch hat das Land, noch hat unsere Demokratie die Wende und ihre Folgen nicht verkraftet, da droht eine neue kreative Zerstörung noch viel größeren Ausmaßes, weil sie nicht nur einige Landesteile, nicht nur ganz Deutschland, sondern große Teile der Welt betrifft.
 

Erlauben Sie mir vor dem Blick in die Zukunft eine Nachfrage zu der Befragung unter den ehemaligen DDR-ErzieherInnen. ErzieherInnen wurden auch nach der Wende und werden bis heute dringend gebraucht. Inwiefern war die Vereinigung für diese Gruppe dennoch eine Art Disruption?

Diese Frauen haben erlebt, wie ihr Berufsfeld und sie selbst durch Achtlosigkeit kleingemacht, herabgesetzt und entwerten worden sind. Nach zehn oder 20 Jahren Berufserfahrung, nach einer sehr angesehenen Ausbildung mit hohem Numerus Clausus in der DDR; mit einem hohen Status auch gegenüber den Eltern, mit denen sie mindestens auf Augenhöhe reden konnten, wenn in der Erziehung etwas schief lief oder es Probleme mit Kindern gab, wurde ihnen auf einmal gesagt, sie erfüllten die angeblich hohen im Westen geltenden Anforderungen nicht und müssten erstmal eine Fortbildung machen. Wer dazu bereit war, musste sich zum Teil von 21jährigen Studentinnen sagen lassen, wie man Kinder erzieht. Halbverdauter theoretischer Schnickschnack galt plötzlich mehr als eine mehrjährige solide erzieherische Ausbildung.

Die Frage, nach welchem Bildungsprogramm eigentlich gearbeitet werden soll, blieb 15 Jahre lang unklar. Dann kam etwas, was verhängt und nicht partizipativ entwickelt wurde. Änderungen bis hin zu Kehrtwenden in der Erziehung wurden nicht begründet, sondern einfach angeordnet. Die Konsequenzen, die die ErzieherInnen für sich zogen, waren unterschiedlich. Viele haben sich aus dem Beruf zurückgezogen.
 

Aber etliche sind auch geblieben. Waren dies die stärkeren Persönlichkeiten?

Unter denen, die blieben und die sogenannte Fortbildung mitmachten, wurden viele zynisch. Sie glauben seitdem an nichts mehr, auch nicht an neue Bildungsprogramme, schon gar nicht, wenn sie von Politikern kommen. Andere haben weiter Freude an der Arbeit mit Kindern, ziehen sich aber völlig auf diese Arbeit zurück und übernehmen keine Verantwortung mehr für die Gesamtentwicklung des Berufsfeldes. Sie sind zu Technikern der Pädagogik geworden. Dabei wären ihr Wissen und ihre Erfahrung extrem wichtig. Die große Leistung dieser Berufsgruppe ist im Westen nie anerkannt worden. Niemand hat sich gefragt, wie gut die Ausbildung und die didaktischen Konzepte gewesen sein müssen, um viel größere Gruppen von Kindern als heute üblich hervorragend zu betreuen, zu beschäftigen und zu erziehen. Stattdessen wurden selbst in der Fachliteratur, die im Übrigen ausnahmslos von Westdeutschen verfasst worden ist, Klischees verbreitet über Erzieher, deren wichtigste Aufgabe die Indoktrination von Kindern gewesen sei.
 

Wer die Wende nicht am eigenen Leib erlebt hat, versteht womöglich trotzdem nicht, was das mit den jetzt durch Digitalisierung, KI und im Interesse des Klimas notwenigen Veränderungen in der Industriepolitik zu tun hat.

So ungenau im Detail die prognostizierten Folgen der Veränderungen sein mögen – sicher ist, dass viele Menschen in den kommenden Jahren ihre bisherige Arbeit verlieren werden und längst nicht alle durch Bildung aufgefangen werden können. Arbeitsplätze und der Charakter von Arbeit werden sich verändern. Es wird viel mehr Freischaffende geben, und zwar zum großen Teil unfreiwillige Selbstständige. Industrie muss nicht einmal mehr abwandern, um Arbeitsprozesse ins Ausland zu verlagern. All diese Veränderungen gilt es vorausschauend zu gestalten.
 

Ist das nicht eine Aufgabe der Politik? In wie weit betrifft sie Psychologen?

Das möchte ich mit den Kolleginnen und Kollegen beim Landestag diskutieren.
 

Wie können Psychologen sich mit ihrem speziellen Wissen einbringen in die Gestaltung der Prozesse einschließlich der ethischen Entscheidungen darüber, welche Prozesse sinnvoll oder gar notwendig sind und welche nicht menschenzentriert und sogar unethisch sind?

Ich habe keine Ahnung, aber es wäre mir recht, wenn wir mit einer Mischung aus Phantasie und Wissen gemeinsam einige Antworten auf die Frage finden, was man als Psychologe und Bürger tun und wodurch man verhindern kann, dass Menschen (schon wieder) in großer Zahl an den Rand gedrängt werden. Es geht darum Ansätze zu finden und sie zu systematisieren, und das durchaus auch gesellschaftskritisch. Die große Stärke der Psychologie besteht darin, dass sie für all das das Potenzial besitzt. Das macht diesen Beruf so spannend.

Andere Professionen melden ihre Wünsche im eigenen Interesse bereits an. Wirtschaftsbosse verlangen Gesetzesänderungen, durch die die Arbeitsgesetzgebung an die neuen Technologien angepasst wird. Einige Forscher fühlen sich eingeengt durch ethische Grundsätze, durch die Fortschritte beim Einsatz der KI verhindert werden und fordern, Deutschland möge Ländern mit diesbezüglich lockereren Bestimmungen folgen. Gewerkschaften beginnen zu erkennen, dass sie sich auf disruptive Prozesse vorbereiten und rechtzeitig die richtigen Weichenstellungen für ihre Mitglieder durchsetzen müssen.
 

Geht das noch ein bisschen genauer?

Als Psychologen können wir präventiv an das Thema herangehen und Resilienz im besten Sinn des Wortes (also nicht im Sinne von Anpassung sondern von Widerstand) entwickeln. Wir können es gesellschaftlich und politisch auffassen und die Frage stellen, was denn wichtig wäre, damit die Spaltung der Gesellschaft erst gar nicht noch weiter vorangetrieben wird? Es gilt Irrwege rechtzeitig zu benennen, wenn Technologie z.B. in die falsche Richtung abbiegt. Wir sind in der Lage, Visionen der Wirtschaft von einer Welt aus Freiberuflern sachlich ad absurdum zu führen, weil wir wissen dass Unternehmergeist eine Persönlichkeitseigenschaft ist, die sich nicht verordnen lässt.

Und wir sollten auch dazu beitragen aufzuarbeiten, was bereits passiert ist, wie wir es mit unseren Studien für einen begrenzten Raum getan haben. Vielleicht bekommen Leute so wieder das Gefühl: Demokratie ist etwas für mich. Wir dürfen es uns in Deutschland nicht noch einmal leisten, große Teile einer Generation zu verlieren, wie durch die Wende im Osten und auch durch zunehmend soziale Ausgrenzung im Westen bereits geschehen. Das darf im Prozess der Digitalisierung und anderer disruptiver Veränderungen nicht erneut passieren.

Das Gespräch führte Christa Schaffmann.


*) report psychologie 3/2019 S. 4-7

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