Bindung und digitaler Medienkonsum

Dr. Andrea Koschier

Als ich angefragt wurde, einen Artikel zu diesem Thema zu schreiben, war mein erster Gedanke: Dazu braucht es einen Artikel? Babys und Smartphones passen meiner Meinung nach so gut zusammen wie Babys und Kokain. Wenn ich gefragt werde, wie viel Smartphone- oder Tablet-Konsum ein Baby verträgt, kann die Gegenfrage nur lauten: Wie viel Drogenkonsum würden Sie Ihrem Baby zugestehen? Wenn die Meinung vertreten wird, dass man auch als telefonierender und „wischender“ Elternteil für sein Kleinkind verfügbar ist, ist meine Antwort: Nein, das ist man nicht.

Ich werde versuchen, im folgenden Artikel meine Position, die radikal erscheinen mag, zu erläutern. Sollten Sie selbst Eltern eines Kleinkindes sein, ist es danach Ihre Sache, welche Schlüsse Sie ziehen. Aber sagen Sie in fünf Jahren, wenn ihr Kind eine ADHS-Diagnose bekommt, nicht, Sie seien nicht gewarnt gewesen. Wenn Sie in sieben Jahren viel Geld für Nachhilfe ausgeben und die Fachkraft meint, es mangele dem Kind grundsätzlich an der Fähigkeit zur Aufmerksamkeit, Ihrem Kind könne folglich nicht geholfen werden, sagen Sie nicht, Sie seien nicht gewarnt gewesen. Wenn Sie in neun Jahren in die Erziehungsberatung kommen, weil Sie Ihr Kind nicht mehr erziehen können und man Ihnen dort sagt, dass Ihr Kind nicht mehr erziehbar sei, weil die Grundlage einer Erziehung, nämlich eine sichere Bindung zu Ihnen, nicht aufgebaut wurde, dann sagen Sie auch nicht, Sie seien nicht gewarnt gewesen. Aber zuallererst: Besorgen Sie sich rechtzeitig einen Augenarzttermin, denn mit großer Wahrscheinlichkeit wird Ihr Kind bereits vor Schuleintritt kurzsichtig sein.

Nach diesen Warnhinweisen – sollte ich Sie noch nicht vergrault haben – lade ich Sie herzlich ein: Kommen Sie mit auf eine Reise zu den ersten Meilensteinen in der spannenden Entwicklung eines Kindes. Ich werde Ihnen zeigen, was es braucht, um eine sichere Bindung aufzubauen, wofür diese gut ist, was das mit der kognitiven Entwicklung Ihres Kindes zu tun hat und dass Sie dafür ganz sicher kein Tablet brauchen.

Die Geburt der Smartphone-Familie

Das Leben eines Menschen, seine kognitive Entwicklung und auch der Bindungsaufbau beginnen bereits in der Schwangerschaft. Wenn das Baby auf die Welt kommt, ist sein Gehirn voll funktionsfähig, es erkennt z. B. die Stimme seiner Eltern wieder. Und auch die werdenden Eltern beginnen schon während der Schwangerschaft, sich an ihr Baby zu binden. Ich habe mein gesamtes Berufsleben mit Familien rund um ihr Entstehen gearbeitet und auch ein wenig geforscht. Es gab dabei eine einschneidende Entwicklung, eine Zäsur, etwas das das Familienleben geprägt hat, wie wenige Veränderungen zuvor. Ich möchte sagen, es gibt ein Familienleben vor und eines nach Einzug des Smartphones in die Familien.

Was ist gleich geblieben? Alle werdenden Eltern freuen sich, alle wollen ihr Glück teilen. Schwangere Frauen hören nach innen, fühlen nach innen. Sie nehmen eine andere Körperhaltung ein. Das alles dient dem Schutz des ungeborenen Babys. Es ist wichtig, diese Momente der angehenden Zweisamkeit, der Hoffnung und des Zweifels zu erleben. Es ist wichtig, dass schwangere Frauen zur Ruhe kommen, das gesamte Nervensystem soll sich erholen. Denn jeden Stress, den die Mutter erlebt, erlebt das Ungeborene genauso. Es ist wichtig, sich auf das Ungeborene einzustimmen, mit ihm in Kontakt zu treten, einen gemeinsamen Rhythmus zu finden, ganz bei ihm zu sein.

Wir können uns jetzt fragen, ob uns Smartphone, Instagram und Co. mehr davon erleben lassen, uns dabei unterstützen. Ob sie helfen, ein Band zwischen Eltern und Kind zu knüpfen, oder ob sie dabei stören. Meine Erfahrung ist: Sie stören. Wir wissen aus Studien, dass die bloße Anwesenheit eines Smartphones unsere Aufmerksamkeit lenkt. Wir wissen, dass wir, seit wir „soziale Medien“ haben, zunehmend verstummen. Eine werdende Mutter, die ihre gesamte Ruhezeit in der virtuellen Welt followed, liked und shared, kann ihre Aufmerksamkeit nicht nach innen richten und zur Ruhe kommen.

„Bitte legen Sie Ihr Handy weg und Ihr Baby an!“

Wussten Sie, dass ein Neugeborenes, wenn man es der Mutter auf den Bauch legt, ein ganzes Stück zurücklegen kann, um zur Brust zu gelangen und zu trinken? Das klappt aber nur, wenn das Baby direkt nach der Geburt zur Mutter kommt. Wird es gewaschen, gewogen, „verarztet“, schafft es das nicht mehr.

Alle Eltern wollen Fotos vom Neugeborenen – aber bitte sachte und kurz. Wenn es wichtiger ist, sich für das Selfie hübsch zu machen und das Bild ins Netz zu stellen, als das Baby ankommen zu lassen und sich gegenseitig einzustimmen, ist etwas verkehrt gelaufen. Auf Geburtsstationen könnte gut der folgende Satz zu hören sein: „Bitte legen Sie ihr Handy weg und Ihr Kind an!“ Das Band zwischen Mutter und Kind ist zart, kleinste Störungen können es zerreißen. Das Baby braucht Ruhe, Hautkontakt, Sicherheit. Es braucht eine ruhige Mama. Um das bieten zu können, braucht die Mutter Ruhe, „Selbstanbindung“, wie es der Psychologe Thomas Harms nennt. Kind und Mutter müssen einen gemeinsamen Rhythmus finden dürfen, sonst wird es ein Kampf. Wenn Eltern telefonieren, mögen sie selbst wissen, dass das Telefonat nur kurz ist. Das Baby hat kein Zeitgefühl. Für sie ist das Band mit den Eltern in diesem Moment zerrissen. Für das Baby sind die Eltern nicht da, das Telefonat ist wichtiger.

Lernen braucht ein Basislager

Wie lernen Neugeborene? Um zu lernen, brauchen Kinder ein Basislager. Am Anfang jeder Lernerfahrung steht die Entdeckung der Zustände und Gefühle in uns. Das Baby spürt „etwas“, aber es kann es nicht einordnen, nicht damit umgehen, hat keinen Namen. All das hat die „Theory of Mind“-Forschung beschrieben im Konzept der Mentalisierung. Für die Entwicklung des Kindes ist die wohlwollende und reflektierende Unterstützung der Bezugspersonen entscheidend und grundlegend.

Wie funktioniert das? Die Eltern spiegeln das innere Erleben des Säuglings wider, indem sie „markieren“: Sie zeigen einen Affektausdruck, aber zeigen zugleich, dass es der ihres Kindes ist. Eltern organisieren so die emotionalen Erfahrungen des Kindes und damit Teile des entstehenden Selbst.

So wie Eltern die Welt wahrnehmen, wird sie vom Kind erlebt. Dessen sollten wir uns immer bewusst sein. Wissen Sie, was passiert, wenn Sie ein Neugeborenes zum ersten Mal in die Badewanne legen? Es wird die Augen der Eltern fixieren und erst viel später das Wasser anschauen. Der Gesichtsausdruck der Eltern ist entscheidend, ob das Baby zu weinen beginnt, weil es Angst verspürt, oder ob es sich in Sicherheit weiß.

Bitte lächeln Sie Ihr Kind an, nicht Ihr Smartphone!

Automatische Affektäußerung des Säuglings und Spiegelung durch die Eltern führen beim Kind zur Fähigkeit der Affektregulierung. Eltern zeigen ihrem Kind auch, wie sie den Affekt für sich verarbeiten würden, wäre es ihr eigener („Lösungsvorschläge“). Diese Entwicklung ist nicht denkbar ohne immerwährenden Austausch zwischen Kind und Eltern. Was hat das alles mit dem Smartphone zu tun? Fahren Sie manchmal mit der Tram oder U-Bahn? Sitzen Sie manchmal in einem Park? Beobachten Sie junge Eltern mit ihrem Kind? Die häufige Nutzung von Smartphones verhindert diese Gelegenheiten. Kinder brauchen Eltern, die sie ansehen, nicht Eltern, die ihr Tablet anlächeln.

Die Bindungstheorie beschreibt im „Kreis der Sicherheit“, was Kinder brauchen: Eltern müssen ihr Kind beim Explorieren unterstützen, auf ihr Kind aufpassen, es mit Freude willkommen heißen und es trösten, wenn es sich wehtut. Jetzt stellen Sie sich in Ihrem Kopf vor, wie es einem Kind geht, dessen Eltern all das nicht tun, weil sie auf ihr Handy schauen. Das Kind fühlt sich nicht begleitet, nicht geschützt, nicht willkommen geheißen, niemand teilt seinen Stolz, niemand tröstet seinen Schmerz. Haben Sie eine Diagnose im Kopf parat, wenn das Kind ein paar Jahre älter ist? Schwanken Sie auch zwischen Bindungsstörung und ADHS? Wussten Sie, dass viele Kindergärten die Eltern bitten, beim Abholen ihres Kindes das Smartphone auszuschalten? Kennen Sie Spielplätze mit Schildern, die ein Smartphone-Verbot kennzeichnen?

Handys und Tablets stören und irritieren

Sie finden, ich übertreibe? Kennen Sie das Bindungsexperiment “Still Face Paradigma” von E. Tronick? Schauen Sie mal unter https://youtu.be/apzXGEbZht0 nach. Ich warte hier auf Sie.

Was haben Sie gesehen? Zu Beginn spielen Mutter und Kind, beide lächeln, es gibt Blickkontakt, die Mutter spiegelt das Kind, verbalisiert seine Erlebnisse, erklärt ihm die Gegenstände, beide haben Freude. Was passiert, wenn die Mutter nicht mehr reagiert? Wie lange dauert es, bis das Kind den Unterschied bemerkt? Weniger als eine Sekunde: Das Baby ist sofort irritiert. Es hebt die Augenbrauen, Veränderungen im Nervensystem sind messbar. Das Kind versucht alles, um seine Mama wieder „zurückzuholen“: Es lächelt, zeigt auf Dinge, spricht die Mutter an. Binnen 30 Sekunden bräuchte das Kind die Hilfe der Mutter. Dann wird es ärgerlich, klatscht in die Hände, quietscht, lächelt erneut. Innerhalb von zwei Minuten verspürt das Kind massiven Stress, den es nicht mehr regulieren kann. Es kann sich nicht mehr beruhigen und beginnt zu weinen, zeigt Angst und Verzweiflung.

Die meisten Menschen finden dieses Experiment unethisch und würden es nie mit ihrem Kind machen (lassen). Das ist richtig. Warum aber tun wir unseren Kindern dieses Experiment tagtäglich zigmal an, wenn wir in unser Handy versinken, dieses anlächeln oder Ärger zeigen? Ein Baby kann das nicht einordnen. Es erhält damit eine Anleitung zur Schizophrenie – über das Symptom „inadäquater Affektausdruck“. Das Still-Face-Experiment wurde erweitert, indem die Eltern statt ins Leere in ihr Smartphone schauen. Der Effekt auf das Kind ist derselbe. Er ist gravierend.

„Wisch-wisch-weg“-Lernen

Jetzt kommen wir zur Frage, ob ein Kleinkind vom Tablet etwas lernen kann. Die Antwort ist: Nein. Ein Lernen in diesem Alter ist immer ein Lernen auf allen Sinneskanälen. Wenn ein Kind eine Rassel greift, sieht, fühlt, hört und schmeckt es, und es erlebt Selbstwirksamkeit. Ein Tablet bietet dagegen nur „totes Wissen“, ein „Wisch-wisch-weg“-Lernen. Nichts bleibt „hängen“, weil es keine emotionale Bedeutung für das Kind hat. Die Fliege, die auf dem T-Shirt des Kindes sitzt, hat emotionale Bedeutung. Eltern, die das verbal aufgreifen, lehren ihr Kind, was gerade wichtig ist. Damit ist es emotional aufgeladen und kann gemerkt werden. Das macht den Unterschied – auch dafür, ob das Kind bei Einschulung einen tollen Wortschatz hat oder gerade so über die Runden kommt.

Sollten wir Kinder mit DVDs fördern? Nein. Mein Sohn hat, als er zwei oder drei Jahre alt war, den „kleinen Eisbären“ geliebt. Wir haben ihm das Büchlein sehr oft vorgelesen, immer wieder, jeden Abend. Ich dachte, ich mache ihm eine Freude und kaufe die DVD. (Ich gebe zu: Ein Hintergedanke war, dass ich dann einmal etwas entspannen oder den Geschirrspüler ausräumen könnte.) Er kannte bis dahin weder DVDs noch Fernsehen. Wir haben den Film eingelegt, er hat binnen Minuten zu weinen angefangen. Was war passiert? Er sagte: „Das Schiff ist aus dem Bild gefahren!“

Wie können wir das psychologisch verstehen? Kleinkinder können nicht zwischen erfundenen Handlungen und Realität unterscheiden. Sie verstehen nicht, warum etwas passiert. Sie können es nicht einordnen, und das macht ihnen Angst. Mit dieser Angst wiederum können sie nicht umgehen. Das wichtigste Medium für Kleinkinder sind und bleiben Bilderbücher – gelesen in den kuscheligen Armen der Eltern. Beim Lesen von Büchern können Kinder das Tempo selbst bestimmen. Sie blättern um, wenn sie das Wissen integriert haben. Wer das Tempo bestimmt, hat Kontrolle. Kontrolle wiederum gibt Sicherheit.

Können Kinder denn gar nicht von digitalen Medien lernen? Nein. Um zu lernen, brauchen Kinder „affektive Dialoge“ mit ihren Eltern. Die häufige Nutzung digitaler Medien auf beiden Seiten verhindert diese und stört das Feintuning zwischen Eltern und Kind. Eine sichere Bindung ist die – auch neuronale oder physiologische – Grundvoraussetzung für ein gesundes Leben, für beste kognitive Entwicklung. Aus Studien wissen wir, dass die intensive Nutzung digitaler Medien im Kleinkindalter zu kognitiven, sozialen, sprachlichen und schulischen Problemen führt (Reid Cahssiakos, 2016).

Was das alles mit dem Nervensystem zu tun hat

Es gibt einen „Modus der Sicherheit“, einen Zustand, in dem der ventrale Vagusnerv aktiviert ist. Dieser geht einher mit einer Aktivierung der sozialen Kommunikation und Interaktion: Blickkontakt, zuhören, modulierte Stimme, Ausrichtung des Kopfes zum Gegenüber, mimischer Ausdruck etc. In diesem Zustand können wir uns entspannen und sind bindungsbereit. Sind wir gestresst, verfallen wir in einen Stress- und Alarmmodus: Das sympathische Nervensystem übernimmt. In der Folge wird die Selbstanbindung geschwächt, unser Aufmerksamkeitsfokus geht nach außen, es werden Energien frei. Tatsächlich gibt es dieses System, um uns in den Kampf-/Fluchtmodus zu versetzen (Porges, 2010). Wir erleben jedoch, dass dieses System aktiviert wird, wenn Eltern in der virtuellen Welt unterwegs sind und dort in virtuelle Gefahr geraten, etwa weil sie negative Rückmeldung auf Facebook, Twitter und Co. erhalten.

Seien Sie feinfühlig Ihrem Kind, nicht ihrem Smartphone gegenüber!

Wenn wir heute die Schlagwörter „Blickkontakt“, „Berührung“, „Signale wahrnehmen“, „Signale bewerten“ und „Interaktion“ (BBSSI) hören, sind wir schnell verleitet zu meinen, damit wäre der Umgang mit dem Smartphone gemeint. Tatsächlich geht es im Feinfühligkeitskonzept um den Umgang mit dem Baby.

Manche von Ihnen werden jetzt einwenden: Ja, aber ich werde doch wohl noch mein Handy benützen dürfen! Natürlich dürfen Sie es benutzen, ich tue es auch. Auch Ihr Kind darf ein Smartphone haben. Ein Problem besteht dann, wenn Eltern nach Likes und Shares süchtiger werden als nach einem Lächeln ihres eigenen Kindes, das gerade seine ersten Schritte tut, und wenn sie ihr Resonanz- und Spiegelungsbedürfnis in den sogenannten „sozialen“ Medien befriedigen möchten und dies auf Kosten der Bindung zu ihrem Kind geht.

Manche werden einwenden, dass es doch so tolle Lern- Apps für Kinder gebe. Für Kinder vielleicht, aber auch da habe ich große Zweifel, ob der Nutzen den Schaden übersteigt. Einem Kleinkind vermittelt ein Tablet nur totes Wissen: ohne Bezug zum Selbst, ohne korrespondierende körperliche Erfahrung, ohne Feedback von wichtigen Personen, ohne emotionale Anbindung.

Babys erhalten alle Reize, die sie zur Entwicklung brauchen, in ihrer realen Umwelt und im Austausch mit den Eltern. Wir haben in unserer Welt im Normalfall schon genug Lernreize. Hat ein Baby in seiner realen Umwelt keine passende Lernumgebung, helfen Smartphone und Co. auch nicht. Die groß angelegte „BLIKK“-Studie, die von der Drogenbeauftragten (!) der Deutschen Bundesregierung Marlene Mortler durchgeführt wurde, kam zu folgenden Ergebnissen: Bei Kindern im Alter von einem Monat bis einem Jahr wurden Fütter- und Einschlafstörungen festgestellt, wenn die Mutter während der Säuglingsbetreuung digitale Medien nutzte. Dies wiederum weist auf eine Bindungsstörung hin. Kinder zwischen zwei und fünf Jahren zeigten während der Nutzung von digitalen Medien motorische Hyperaktivität und Konzentrationsstörungen. Bei Kleinkindern, die täglich digitale Bildschirme nutzen, wurden außerdem Sprachentwicklungsstörungen festgestellt, und es zeigten sich psychische Auffälligkeiten (Unruhe, Ablenkbarkeit).

Wir haben es mit bedürftigen Eltern zu tun

Wenn wir das alles wissen – und ich bin überzeugt, dass viele Eltern das wissen –, stellt sich die Frage: Warum tun wir es trotzdem? Eine Antwort hat Martin Altmeyer (2016): „Im Zeitalter des Internets scheint das Seelenleben vom Wunsch nach zwischenmenschlicher Kommunikation bestimmt, von einer Sehnsucht nach Spiegelung, nach einem Echo aus der Lebenswelt, vom Verlangen danach, von anderen Menschen gesehen und gehört zu werden. Unaufhörlich sind wir am twittern, chatten, mailen, bloggen, hashtaggen, googeln und downloaden. Wir posten und posen, was das Zeug hält. Wir stellen unsere Selfies ins Netz oder verschicken sie über soziale Medien […]. Warum tun wir das alles? Aus narzisstischen Motiven? Weil Aufmerksamkeitssucht und Kommunikationsgier uns dazu treiben? Weil wir manipuliert und medienabhängig gemacht werden, wie Zeitgeistkritiker gerne behaupten? Wir tun das aus einem elementaren Motiv: weil wir auf der Suche nach Umweltresonanz sind und weil die Befriedigung von Resonanzbedürfnissen identitätsstiftend wirkt von Geburt an, ein Leben lang.“

Das bedeutet, wir haben es mit bedürftigen Eltern zu tun. Da läuft etwas grundlegend falsch. Eltern sollen die Starken sein, weil ihre Kinder bedürftig sind. Man kann sich fragen: Woher kommt das? Ich vermute, wir finden die Antwort in der Bindungsgeschichte der Eltern.

Ich bin kürzlich über folgende Empfehlung gestolpert: „Digital Detox für Familien“. Familien werden beschrieben als „Smombies“ (Mischung aus Smartphone und Zombie), sie leiden an „FOMO“ (fear of missing out), Smartphone sind Konzentrationskiller, Essen und Smartphone vertragen sich nicht, es braucht handyfreie Zonen, Eigenverantwortung, Family Quality Time, analoge Unterhaltung, und Familien sollen für den Smartphone-Konsum Vereinbarungen festlegen. Wissen Sie, wer diese Empfehlungen herausgegeben hat? A1 – der größte Mobilfunkanbieter Österreichs.

Smartphone-Störung oder neue Dreifaltigkeit: Zigarette, Energydrink, Smartphone

Familien leiden an einer „Smartphone-Störung“. Das Smartphone oder Tablet stört die Familie. Es verhindert all das, was Babys und Kleinkinder brauchen: gemeinsames Fühlen, Lächeln, Erleben, Im-Moment-Sein, Erfahren der Welt. Es versetzt Eltern in einen Zustand, in dem sie zwar mit der virtuellen Welt verbunden, aber von ihrem Baby getrennt sind. Es ist ein aufgeregter und unzufriedener Zustand. Babys mit ihren extrem feinfühligen Antennen nehmen dies als Bedrohung wahr. Die Folgen für das Baby sind Bindungsschwächung, -abriss, Hyperarousal, kognitive Defizite, ADHS etc.

Ich würde mir wünschen, dass auf jedem digitalen Endgerät eine Warnung angebracht wäre: „Achtung, dieses Smartphone/Tablet gefährdet die sichere Bindung und die kognitive Entwicklung Ihres Babys. Use responsively.“ Sie meinen, das sei übertrieben und eine Illusion? Bevor Sie mit mir eine Wette abschließen, denken Sie kurz über das Schicksal des „Marlboro-Man“ nach. Sein Bild wurde durch einen Totenkopf ersetzt.

Wie oft hört man den Satz: „Digitale Medien sind aus unserem Alltag nicht mehr wegzudenken.“ Ja, das mag sein, aber es heißt erstens nicht, dass wir unser Baby dem aussetzen sollen. Und es heißt zweitens nicht, dass wir das gut finden müssen. Ich halte es viel lieber mit George Bernard Shaw, der meinte: “Imagination is the beginning of creation.“

Dieser Artikel stammt aus dem aktuellen Report Psychologie, das Heft kann hier bestellt werden: https://www.psychologenverlag.de/Produkte/dCatID/156/pid/790/backLink/

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