Stellungnahme zur Tätigkeit des Diplom-Psychologen als Sachverständiger im Sozialgerichtsverfahren

Stellungnahme zur Tätigkeit des Diplom-Psychologen als Sachverständiger im Sozialgerichtsverfahren zu folgenden Fragen:

  1. Ist der Diplom-Psychologe, insbesondere der Klinische Psychologe, von seiner Ausbildung her in der Lage (ggf. auch erst auf Grund weiterer bzw. spezieller Qualifikationen,
       a) das Vorliegen psychischer Krankheiten und Behinderungen zu erkennen
       und
       b) die diesbezüglichen Diagnosen zu stellen?
  2. Ist der Diplom-Psychologe, insbesondere der Klinische Psychologe, in der Lage, aufgrund der von ihm erhobenen Feststellungen und Diagnosen das Leistungsvermögen des Versicherten im Erwerbsleben im Hinblick auf diese Erkrankungen zu beurteilen?

1. Grundsätze zur Gleichstellung von Psychologe und Arzt

Mit Rechtswirksamkeit des Psychotherapeutengesetzes (Januar 1999) sind die Unsicherheiten über den Status des psychologischen Psychotherapeuten beseitigt.

Der approbierte Psychologe hat das Recht und trägt die Verantwortung sowohl für die Erstellung von Diagnosen als auch für seine Entscheidung über eine Psychotherapie und ihre Durchführung. Im Gesetzestext heißt es hierzu: „Ausübung von Psychotherapie im Sinne dieses Gesetzes ist jede mittels wissenschaftlich anerkannter psychotherapeutischer Verfahren vorgenommener Tätigkeit zur Feststellung, Heilung oder Linderung von Störungen mit Krankheitswert, bei denen Psychotherapie indiziert ist.“ Die Aufgaben des Arztes, der nach 5 psychologischen Probesitzungen konsultiert werden muss, beschränkt sich auf die Abklärung einer somatischen Erkrankung, die er in einem Konsiliarbericht festhält. Er trifft keine Entscheidung mehr über die Notwendigkeit der psychologischen Psychotherapie; allerdings kann er entscheiden, dass der Psychologe zusätzlich den Konsiliarbericht eines Psychiaters einholen muss bei Verdacht auf eine schwere psychiatrische Erkrankung. Vom psychologischen Psychotherapeuten ist aufgrund seiner Ausbildung zu erwarten, dass er im Verlaufe de Therapie die Grenzen seines Fachgebietes kennt und ggf. fachärztliche Hilfe in Anspruch nimmt. In dieser Hinsicht ist er in der gleichen Situation wie jeder Arzt, der ebenfalls die Verantwortung trägt, die Grenzen seines Fachwissens zu erkennen und ggf. Spezialisten eines anderen Fachgebietes einzuschalten. Entsprechend ist auch die Frage der Medikamentenverordnung bei psychischen Störungen zu sehen, die im Aufgabenbereich eines anderen Fachgebietes liegt, üblicherweise dem des Psychiaters. Für den eigenen Fachbereich der Psychotherapie bestehen für den psychologischen Psychotherapeuten in der Diagnostik keine Einschränkungen.

Um die Approbation zu erhalten, muss der Diplom-Psychologe nach seinem Studium der Psychologie zusätzlich eine mindestens dreijährige Psychotherapieausbildung in einem anerkannten wissenschaftlichen Verfahren einschließlich einer mindestens einjährigen Tätigkeit in einer psychiatrischen Klinik mit einem Staatsexamen als Abschluss absolvieren.

Zusammenfassend trägt dieses Gesetz der Tatsache Rechnung, dass die Psychologie als eigenständige Wissenschaft mit eigenen Inhalten und Methoden auch in der Heilkunde Anwendung findet. Den Ärzten obliegt mit dem PsychThG nicht mehr die Befugnis, über die psychologisch-heilkundliche Tätigkeit des approbierten Psychologen zu entscheiden, wie das bis dahin der Fall war. Entsprechend kann sich seit 1999 jeder Krankenversicherte bei einer Erkrankung oder Beeinträchtigung mit psychischen Aspekten entscheiden, ob er zur Behandlung einen Arzt oder Psychologen aufsucht. Der Gesetzgeber trägt der gleichberechtigten Tätigkeit der Ärzte und Psychologen auf dem Feld der psychotherapeutisch zu behandelnden Erkrankungen auch dadurch Rechnung, dass er für die von den gesetzlichen Krankenkassen zu finanzierenden psychotherapeutischen Behandlungen Quoten zwischen ärztlichen und psychologischen Psychotherapeuten für die nächsten 10 Jahre festgelegt hat, nämlich, dass jede Gruppe mindestens 40 % aller psychotherapeutischen Behandlungen durchführen kann.

2. Qualitätsmerkmale des psychologischen Gutachten im sozialgerichtlichen Verfahren

Das psychologische Gutachten stützt sich auf das Aktenstudium, die Erhebung der biografischen Anamnese und des psychischen Befundes sowie auf die testpsychologischen Ergebnisse. Das Aktenstudium sowie die Anamnese- und Befunderhebung sind Bestandteil sowohl des ärztlichen als auch des psychologischen Gutachtens. So wie die körperliche Untersuchung eine spezifische ärztliche Leistung ist, ist die Testpsychologie die spezifisch psychologische Leistung im Gutachten. Sie trägt einen wesentlichen Teil der Beweiskraft.

3. Die Testpsychologie im Gutachten

Mit der umfangreichen Testothek haben die Psychologen ein Instrument an der Hand, mit dem sie geistige und seelische Prozesse genauer messen und abbilden können, als dies durch die klinische Erfahrung eines Arztes oder Psychologen allein möglich wäre. Die so gewonnenen testpsychologischen Ergebnisse sind jedoch nicht wie Laborwerte zu behandeln, bei denen man weiß, wann sie im Normbereich liegen und wann nicht mehr. Der Anwender und Auswerter (!) eines psychologischen Tests bedarf

  1. einer spezifischen Kenntnis über Testkonstruktion und die Aussagefähigkeit der Skalen und Items sowie die unterschiedlichen Charakteristika und theoretischen Konzepte der einzelnen Tests einer Testbatterie,
  2. der klinischen Erfahrung sowohl mit den Krankheitsbildern als auch mit der Testpsychologie sowie
  3. der Kenntnis von der Anamnese und dem klinischen Bild des Probanden.

Dies sind die wissenschaftlich festgelegten Bedingungen, die zu angemessenen und verantwortbaren Schlussfolgerungen in der Testdiagnostik führen. So wird etwa in den Benutzeranweisungen für alle Persönlichkeitstests darauf hingewiesen, dass ohne nähere Kenntnis der untersuchten Person klinische Schlussfolgerungen allein aufgrund einer Persönlichkeitstestung nicht zulässig sind.

Durch den Einsatz von Testverfahren ist der Psychologe in der Lage, eine genauere und objektivere Leistungsbeurteilung von Probanden im psychischen Bereich zu erbringen als die hier oft noch üblichen, subjektiven gutachterlichen Einschätzungen.

Der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) hält es nicht für zulässig, dass testpsychologische Verfahren von Ärzten angewandt werden, da diese nicht die hierfür erforderlichen Kenntnisse haben und sie dementsprechend oft in der Praxis fehlerhaft anwenden. Dies kann in einem Analogieschluss zur medikamentösen Anwendung verdeutlicht werden: Auch wenn der erfahrene klinische Psychologe den Einsatz verschiedener Psychopharmaka recht gut beurteilen kann, so bleibt ihm die Verordnung dieser Medikamente zu Recht verschlossen, weil er mögliche Wechselwirkungen, Nebenwirkungen, organische Langzeitfolgen etc. nicht hinreichend beurteilen kann, da ihm hierzu die Grundlagen fehlen. In gleicher Weise fehlen dem Arzt die Grundlagen, um die Grenzen und die Widersprüchlichkeiten unterschiedlicher Tests zu erkennen und zu bewerten, da er nicht über die erforderlichen Kenntnisse von Grundlagen der Testkonstruktion, statistischen Kennwerten und der den Tests zugrundeliegenden unterschiedlichen psychologischen Theorien hat. Deshalb ist es nach der Rechtsauffassung des BDP mit dem Anspruch der getesteten Person auf eine qualifizierte Beurteilung nicht vereinbar, dass Ärzte psychologische Testverfahren anwenden und auswerten.

Es entspricht auch nicht der lege artis, wenn der Psychologe die psychologischen Tests durchführt, dem Arzt aber die Interpretation der Rohwerte überlässt oder überlassen soll. Denn die Interpretation ist ein nicht heraustrennbarer Bestandteil der Testdurchführung und setzt ein Mindestmaß an Wissen des Psychologen über Umstände und Hintergründe der Testung voraus. Eine qualifizierte Interpretation psychologischer Tests im Rahmen eines Gutachtens erfordert deshalb sowohl eine Kenntnis der Aktenvorgeschichte als auch eine persönliche Untersuchung des Probanden.

Üblicherweise werden in Gutachten nicht einzelne Tests verwendet, sondern Testbatterien, die für die vorliegende Fragestellung zusammengestellt werden, um die begrenzte Aussagekraft des einzelnen Tests mit seiner größeren Irrtumswahrscheinlichkeit wesentlich zu verbessern. Um Testbatterien zusammenstellen zu können, bedarf es gleichfalls der umfassenden Kenntnisse in der Testpsychologie, wie sie im Psychologiestudium vermittelt werden.

4. Der Einsatzbereich der Testpsychologie

Bei der sozialgerichtlichen Sachverständigentätigkeit liefert die Testpsychologie wichtige Erkenntnisse insbesondere

  • in der allgemeinen Beurteilung der psychischen (geistigen und emotionalen) beruflichen Leistungsfähigkeit
  • in der spezifischen Beurteilung der psychischen Leistungsfähigkeit in bestimmten Berufsfeldern
  • in der Feststellung, ob ausreichende Fähigkeiten zum Einarbeiten in neue Tätigkeiten oder für eine Umschulungsmaßnahme vorliegen
  • in der Einschätzung der Schwere mentaler Einbußen und deren berufliche Folgen sowie ihr Einfluss auf die Höhe der MdE und des GdB
  • bei der Beurteilung, in welchem Zeitraum welche psychischen Leistungseinbußen entstanden sind, so dass auch zusätzliche Erkenntnisse über die Kausalität bei Störungen nach Arbeitsunfällen gewonnen werden können
  • Aufdecken und Abgrenzen von Simulation und Aggravation psychischer und mentaler Einschränkungen (s.u.).

5. Schlussfolgerungen für die Beauftragung von psychologischen Sachverständigen

Für sozialgerichtliche Verfahren, in denen vor allem eine differenzierte Leistungsbeurteilung im psychischen Bereich erforderlich ist, bedeutet dies, dass ein eigenständiges psychologisches Gutachten von einem Diplom-Psychologen erforderlich ist, wenn die medizinischen Fragen hinreichend abgeklärt sind oder parallel dazu abgeklärt werden.

Das eigenständige psychologische Gutachten im Sozialgerichtsverfahren ist also nicht nur möglich, sondern zwingend erforderlich, wenn eine differenzierte Leistungsbeurteilung im psychischen Bereich verlangt ist. Das subjektive Urteil des Sachverständigen ist nach unserer Auffassung heutzutage nicht mehr ausreichend für eine genaue Feststellung der geistigen Fähigkeiten und der emotionalen Belastbarkeit sowie der dazugehörigen Verlaufsprognose und den Behandlungschancen. Versicherten haben einen Rechtsanspruch darauf, dass ihre Erwerbsfähigkeit auch in psychischer Hinsicht nach dem Stand der Wissenschaft beurteilt wird, d.h. mit den modernen, objektivierbaren psychologischen Verfahren statt mit höchst subjektiven gutachterlichen Schätzungen.

Aus der Gleichberechtigung von Arzt und Psychologe, wie sie im PsychThG zum Ausdruck gebracht wurde, ergibt sich fernerhin die Notwendigkeit, bei psychischen Störungen auch in der Begutachtung den psychotherapeutischen Krankheitsbereich zu definieren. Dieser schließt alle Neurosen, psychogene Reaktionen, Persönlichkeitsstörungen, psychosomatische Störungen einschließlich der somatoformen Schmerzstörung sowie Suchterkrankungen ein. Dies ist die Gruppe der primär psychotherapeutisch zu behandelnden Erkrankungen.

So wie Patienten im psychotherapeutischen Bereich der Neurosen zwischen ärztlichem und psychologischen Psychotherapeuten wählen können, stellen sich auch für den Richter am Sozialgericht neue Gutachterentscheidungen zwischen diesen beiden Berufsgruppen. Es liegt nahe, eher den ärztlichen Psychotherapeuten zu wählen, wenn eine enge Vermischung der psychischen Symptomatik mit ernsthaften körperlichen Erkrankungen vorliegt, während dem Psychologen bei abgeklärten somatischen Erkrankungen für eine differenzierte Leistungsbeurteilung und bei Verdacht auf Simulation/Aggravation psychischer Beschwerden der Vorzug zu geben ist. Neue Kooperationsmodelle zwischen den organmedizinischen Ärzten und den Approbierten Psychologen sollten nach Meinung des Berufsverbandes entwickelt werden, damit keine Doppelbeurteilung der psychischen Krankheitsanteile mehr stattfindet. Denn es ist nicht mehr notwendig und wirtschaftlich auch nicht vertretbar, dass die vom Approbierten Psychologen diagnostizierten und beurteilten neurotischen Störungen vom Psychiater und/oder ärztlichen Psychotherapeuten noch einmal festgestellt und beurteilt werden müssen. Ferner ist der Psychologe auch als Hauptgutachter zu ernennen, wenn die Beweisfragen hauptsächlich in sein Fachgebiet fallen.

Es existieren keine rechtlichen Grundlagen dafür, dass nur Approbierte Psychologen eine Sachverständigentätigkeit in der Sozialgerichtsbarkeit durchführen könnten. Entscheidend ist allein, ob das fachliche Wissen für diese Tätigkeit vorliegt. Der beauftragende Richter ist in seiner Entscheidung frei, wen er für einen qualifizierten Sachverständigen hält. Dies kann bei einem Streitfall im Gerichtsverfahren im Einzelfall überprüft werden.

Falls Interpretations- und Bewertungskonflikte zwischen Arzt und Psychologe entstehen, sind diese dem Gericht offen zu legen. Hierfür ist die Erstellung eines unabhängigen psychologischen Gutachtens durch einen Psychologen erforderlich. Nur so wird auch für den Richter nachvollziehbar und überprüfbar, welches Gutachten sich auf welche Entscheidungsgrundlagen stützt. Denn bei unterschiedlichen gutachterlichen Ergebnissen muss der Konflikt für den Richter transparent und damit der Aufklärung zugänglich sein. Diese wichtige Bedingung ist nicht gegeben, wenn z.B. der psychiatrisch/neurologische Chefarzt das psychologische Gutachten mit unterschreibt und damit auch Einfluss auf das psychologische Gutachten nimmt. Es kommt nicht selten vor, dass der Psychologe aufgrund der Abhängigkeit von seinem Chefarzt eigene Überlegungen zugunsten der Vorstellungen seines ärztlichen Vorgesetzten aufgeben muss. Dies ist nicht mit einer Tätigkeit als Sachverständiger vereinbar, obwohl es immer noch in vielen Kliniken praktiziert wird. In einem solchen Fall sind die unterschiedlichen Überlegungen des Arztes und des Psychologen für den Richter nicht mehr nachvollziehbar.

Schon vor dem Psychotherapeutengesetz, also bevor die Approbation für Psychologen eingeführt wurde, konnten entsprechend durch ihre klinische Erfahrung qualifizierte Psychologen als Sachverständige in der Sozialgerichtsbarkeit berufen werden. Diese Rechtslage zur Berufung von Sachverständigen hat sich nicht verändert. Die Approbation eines Diplom-Psychologen ist Ausdruck der staatlichen Anerkennung der vorhandenen Qualifikation des Klinischen Psychologen. In den meisten Fällen war zur Erlangung der Approbation keine zusätzliche Ausbildung durch den Klinischen Psychologen notwendig. Die Approbation eines Psychologen ist somit als wichtiges, aber nicht entscheidendes Kriterium für eine Sachverständigentätigkeit im Sozialgerichtsverfahren anzusehen.

Für die Weiterentwicklung der Qualitätssicherung hat der Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen inzwischen Kriterien der Qualifikation zur psychologisch-gutachterlichen Tätigkeit festgelegt und ein spezielles Ausbildungscurriculum für den Fachpsychologen der Rechtspsychologie erstellt, das hohe Ansprüche an eine gutachterliche Tätigkeit des Psychologen stellt.

6. Hinweise zur Beurteilung von Simulation und Aggravation

Neben dem subjektiven Eindruck des Untersuchers ergibt die Testpsychologie objektive und damit nachprüfbare Hinweise auf Simulation und Aggravation.

Die Persönlichkeitsdiagnostik gibt wichtige Hinweise zur emotionalen Belastbarkeit eines Probanden, sowohl aktuell als auch in der Lebensgeschichte. Zusätzlich lässt sich aus den Testergebnissen der Persönlichkeitsdiagnostik mit den verschiedenen Kontrollskalen feststellen, ob es Hinweise auf Simulation, Aggravation oder auch Dissimulation gibt und welche Beantwortungsstile und welches Verständnisniveau vorliegt und ob sich diese Hinweise auf emotionales Erleben beziehen oder auf körperliche Beeinträchtigungen. Dabei muss der Unterschied zwischen der Diagnostik zu therapeutischen Zwecken und der Gutachtendiagnostik berücksichtigt werden, nämlich die andere Motivlage des Probanden: In der Therapie sucht der Patient in der Regel Hilfe und ist deshalb so ehrlich, wie er kann. Bei der Begutachtung hat er das Interesse seine Beeinträchtigungen zu verdeutlichen. Dies ist menschlich verständlich und noch kein Hinweis auf absichtliche Verfälschung. Außerdem ist zu klären, ob die Neigung zu Aggravationen womöglich ein überdauerndes Persönlichkeitsmerkmal des Betreffenden ist, sei es als hysterische Komponente, sei es als Fixierung auf körperliche Symptome. Unter Umständen bietet es sich an, wenn bei einzelnen Skalen auffällige Werte erzielt wurden, sich noch einmal die betreffenden Items näher anzusehen. Wenn die Möglichkeit besteht, den Probanden nach der Testauswertung noch einmal zu sehen, kann es klärend sein, ihn auch mit seinen Aussagen zu den einzelnen Items zu konfrontieren. So erhält man zusätzlichen Aufschluss über das Antwortverhalten und die Tendenz zu übertreiben, zu simulieren oder misszuverstehen. Psychologisches Grundlagenwissen im Bereich der Aussagepsychologie, die erforscht, unter welchen Bedingungen Aussagen glaubwürdig sind, ist insgesamt notwendig, um zu vermeiden, einen Probanden vorschnell als Simulanten abzustempeln. In jedem Fall ist es weiterhin erforderlich, dass qualifizierte Schlussfolgerungen auch in dieser Hinsicht nur in Kenntnis der Krankheitsgeschichte sowie durch eine ergänzende Exploration und Erhebung eines psychischen Befundes verantwortbar sind.

Die Leistungsdiagnostik dient der Erfassung der geistigen Fähigkeiten. Hier hat die Verhaltensbeobachtung eine außerordentliche Bedeutung für die Beurteilung von Simulation und Aggravation. An Ärger- und Anstrengungsreaktionen, an den Kommentaren und an der zu beobachtbaren Anspannung ergeben sich Hinweise auf den Grad der Mühegabe und des Interesses an den Aufgaben. Auch hier ist zu unterscheiden, ob die unterschiedlichen Tests den Probanden unterschiedlich ansprechen und er aus diesem Grunde eine unterschiedliche Mühegabe zeigt, oder ob er bestimmte Tests innerlich ablehnt, weil sie ihn z.B. an eine schlimme Schulzeit erinnern. Darüber hinaus ist jedoch bei schlechten Leistungen zu klären, ob möglicherweise die Leistungsfähigkeit eher situationsbedingt, d.h. nur in dieser Gutachtensituation reduziert war. Dies kann entweder darauf zurückgeführt werden, dass er aufgrund der Gutachtensituation kein Interesse hat, eine gute Leistung zu erbringen, oder dass er aus anderen situativen Bedingungen heraus tatsächlich an diesem Tag keine guten Testergebnisse erzielen kann. Wenn belegt ist, dass eine schlechte Leistung durch absichtliche geringe Mühegabe erzeugt wurde, kann zu Recht von Simulation gesprochen werden. Relevante Leistungsmängel mit einem Verdacht auf Simulation, der aber nicht hinreichend bewiesen ist, können nicht als leistungsmindernd in der Beurteilung berücksichtigt werden. Es empfiehlt sich, vor jeder Untersuchung den Probanden darauf hin zu weisen, dass die psychologische Untersuchung geringe Mühegabe und Simulation erkennen kann und dass dies dann für ihn nachteilig ist. Die allermeisten Probanden nehmen dies ernst.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Identifikation von Aggravation und Simulation im psychischen Bereich eine schwierige Aufgabe ist, die in den meisten Fällen verantwortlich nur unter zusätzlicher Einbeziehung der Methoden der Testpsychologie zu leisten ist.

7. Ergänzende Hinweise zur dauerhaften Leistungseinschränkung

Mit Hilfe von Testergebnissen ist, wie dargelegt, häufig zu beurteilen, wie weit eine berufliche Tätigkeit im Allgemeinen oder für bestimmte Berufe zumutbar ist. Dabei ist auch die längere Zeitdauer der psychologischen Untersuchung insoweit für die Beurteilung zu nutzen, als die Aussagen über die psychische und geistige Belastbarkeit durch eine mehrstündige psychologische Untersuchung besser auf die Arbeitssituation übertragbar sind, als wenn sie nur in einer reinen Exploration erfasst wurden. Leistungseinbußen durch zunehmende Konzentrationsmängel im Zeitverlauf können objektiviert werden.

Die folgenden Kriterien sollten erfüllt sein, bevor eine relevante dauerhafte Leistungseinschränkung im psychotherapeutischen Krankheitsbereich festgestellt werden kann:

  1. Eine schwerwiegende Symptomatik, die entweder die üblichen Belastungen im Arbeitsleben nicht mehr zulässt oder, falls dies nicht hinreichend belegt werden kann, bei der der subjektive Leidensdruck so ausgeprägt ist, dass es zu einer erheblichen Einschränkung im Alltagsleben und im Tagesablauf kommt.
  2. Ein mehrjähriger chronifizierter Verlauf.
  3. Soweit noch eine psychotherapeutische Behandlungsmöglichkeit besteht, sollten in der Regel mindestens zwei unterschiedliche konsequente Behandlungsversuche gemacht worden sein. Zu berücksichtigen sind dabei vor allem stationäre, aber auch ambulante Therapien, Inanspruchnahme von Beratungsstellen und Selbsthilfegruppen.
  4. Ausschluss von Simulation und bewusstseinsnaher Aggravation bei den entscheidungsrelevanten Einschränkungen.

8. Beantwortung der Eingangsfragen

Aus den Ausführungen geht zweifelsfrei hervor, dass alle gestellten Fragen uneingeschränkt mit "Ja" zu beantworten sind

Dieses Fazit wurde im übrigen in einer mündlichen Erörterung mit Prof. Dr. Krasney, Vizepräsident des Bundessozialgerichtes a.D., bestätigt.

Für die Sektion Rechtspsychologie im Berufsverband Deutscher Psychologen
W. Siegel, Dipl.-Psychologe

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Stellungnahme
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