Stellungnahme des Berufsverbandes Deutscher Psychologinnen und Psychologen (BDP) zur Novellierung der DGUV Vorschrift 2

Stellungnahme

Berlin, 28.4.2025

Mit der DGUV Vorschrift 2 liegen für Berufsgenossenschaften, Unfallkassen und auch Arbeitge-bende konkrete Hinweise für die Umsetzung des Arbeitssicherheitsgesetzes (ASiG) vor. Die DGUV Vorschrift 2 ist Teil des deutschen Arbeitsschutzrechts und soll dazu beitragen, ein sicheres und gesundes Arbeitsumfeld zu schaffen. Sie ist somit ein zentraler Bestandteil der gesetzlichen Unfallversicherung und des Arbeitsschutzes in Deutschland.

Die zum 1. April 2025 in Kraft getretene novellierte Fassung der DGUV Vorschrift 2 enthält begrüßenswerte Fortschritte für den betrieblichen Arbeitsschutz. Insbesondere die stärkere Öffnung für digitale Kommunikationsformen, die präzisere Trennung zwischen Vorschrift und Regelwerk sowie die Einführung verbindlicher Fortbildungsdokumentationen verbessern die Qualität und Praxistauglichkeit des Arbeitsschutzes.

Die Öffnung der Fachkraft für Arbeitssicherheit (SiFa)-Ausbildung für Absolvent*innen weiterer akademischer Fachrichtungen – darunter Psychologie, Humanmedizin, Biologie und Ergonomie – ist grundsätzlich ein positives Signal für mehr Interdisziplinarität. Gleichwohl greift dieser Ansatz zu kurz, um den komplexen Herausforderungen moderner Arbeitssysteme gerecht zu werden.

Aktuelle Herausforderungen der Arbeitswelt
Die heutige Arbeitswelt ist durch tiefgreifende Veränderungen geprägt, die neue Anforderungen an den betrieblichen Arbeitsschutz stellen. In nahezu allen Branchen und Tätigkeitsfeldern beobachten wir eine kontinuierliche Zunahme psychischer Belastungsfaktoren, die mit klassischen Präventionsansätzen nur unzureichend adressiert werden können. Parallel dazu führen Digitalisierung und künstliche Intelligenz zu einer wachsenden Komplexität soziotechnischer Systeme, deren Wech-selwirkungen mit menschlichem Erleben und Verhalten spezifische Analysemethoden erfordern. Diese vielschichtigen Entwicklungen machen deutlich, dass moderne Arbeitsschutzkonzepte spezialisierte Fachkompetenzen benötigen, die über die traditionellen Domänen der Sicherheitstechnik und Arbeitsmedizin hinausreichen und diese sinnvoll ergänzen.

Kritische Bewertung der Novellierung
Die Neufassung der DGUV Vorschrift 2 ermöglicht Psycholog*innen prinzipiell den Zugang zur betrieblichen Prävention – allerdings ausschließlich über den Weg einer sicherheitstechnischen Zusatzqualifikation im Rahmen der Ausbildung zur Fachkraft für Arbeitssicherheit (SiFa). Diese Lösung greift aus Sicht des BDP deutlich zu kurz und weist mehrere strukturelle Schwächen auf.

  1. Verengung statt Erweiterung der Fachlichkeit
    Ein Zugang zum betrieblichen Arbeitsschutz, der ausschließlich über eine sicherheitstechnische Zusatzqualifikation für Psycholog*innen geregelt wird, könnte deren Einsatzgebiet auf Aufgaben innerhalb der SiFa-Systematik beschränken. Dies widerspricht der fachlichen Tiefe und Eigenständigkeit arbeitspsychologischer Expertise. Die Gestaltung gesundheitsförderlicher Arbeitsbedingungen zählt zu den genuinen Kernkompetenzen der Psychologie: Psycholog*innen verfügen über ein tiefgehendes Verständnis der komplexen Wechselwirkungen zwischen Arbeitsbedingungen und der physischen sowie psychischen Gesundheit von Beschäftigten. Sie sind in der Lage, diese vielschichtigen psychischen Belastungsfaktoren evidenzbasiert zu messen und zu beurteilen sowie daraus wirksame, verhältnispräventive Maßnahmen abzuleiten, die Umsetzung zu begleiten sowie deren Wirksamkeit zu evaluieren. Ihre Rolle ist nicht ergänzend-technisch, sondern konzeptionell und strategisch im Sinne einer systematischen, nachhaltigen Gesundheitsförderung.
  2. Unklare Rollendefinition statt strukturierter Interdisziplinarität
    Die derzeitige Regelung führt zu einer Verwischung fachlicher Zuständigkeiten, statt eine klar strukturierte Zusammenarbeit zwischen Sicherheitstechnik, Arbeitsmedizin und Psychologie zu fördern. Eine effektive Prävention braucht eine arbeitsteilige Kooperation auf Augenhöhe – keine Konkurrenz oder Substitution. Jede Fachdisziplin bringt spezifische Zugänge, Perspektiven und Methoden mit, die in der Kombination ihre Wirkung entfalten. Und die nur in der Kombination einen umfassenden Arbeitsschutz gewährleisten. Die Rolle psychologischer Fachkräfte sollte daher ebenso klar definiert und verankert sein wie die der Betriebsärzt*innen und SiFas.
  3. Verpasste Chance zur strukturellen Reform
    Die Integration psychologischer Studiengänge in die sicherheitstechnische Ausbildung kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass es an einer eigenständigen strukturellen Lösung fehlt. Anstatt Psycholog*innen auf einen Umweg zu schicken, wäre es zeitgemäß, arbeitspsychologische Fachkräfte mit eigenem gesetzlichem Auftrag, Qualifikationsprofil und Zuständigkeiten in das Arbeitsschutzsystem zu integrieren. Das entspricht auch den arbeits- und gesundheitspolitischen Zielsetzungen der Bundesregierung. Im Koalitionsvertrag 2025 betonen die Regierungsparteien ausdrücklich die Notwendigkeit, den Arbeitsschutz an die Anforderungen der modernen Arbeitswelt anzupassen und psychische Belastungen gezielt zu adressieren. So heißt es:
    „Wir stehen für hohe Standards im Arbeitsschutz. Insbesondere soll die Prävention vor psychischen Erkrankungen gestärkt und dazu alle nötigen Instrumente des Arbeitsschutzes auf ihre Wirksamkeit geprüft werden.“ (S. 16)
    Diese Zielsetzung umfasst ausdrücklich die Weiterentwicklung bestehender Strukturen im Hinblick auf psychosoziale Risiken. Eine eigenständige gesetzliche Verankerung psychologischer Fachkompetenz – als dritte Säule im betrieblichen Arbeitsschutz – würde somit nicht nur dem aktuellen Stand wissenschaftlicher Erkenntnis entsprechen, sondern auch eine konkrete Maßnahme zur Umsetzung dieser politischen Vorgabe darstellen.
    Bereits heute zeigt die Praxis in vielen Unternehmen: Wirklich erfolgreiche Präventionsmo-delle beruhen auf der gleichberechtigten Zusammenarbeit von Fachkräften aus Sicherheitstechnik, Medizin und Psychologie. Diese interdisziplinäre Kooperation verbessert nicht nur die Wirksamkeit der Maßnahmen, sondern auch deren Akzeptanz bei Führungskräften und Beschäftigten. Eine strukturelle Verankerung psychologischer Fachkompetenz wäre daher kein Bruch mit der Tradition, sondern ein notwendiger Entwicklungsschritt.

Die Herausforderungen der digitalen Transformation in der Arbeitswelt
Die zunehmende Integration digitaler Technologien und KI-Systeme in Arbeitsprozesse stellt Unternehmen vor neue Herausforderungen. Dabei geht es nicht nur um technische Aspekte, sondern auch um die psychologischen Auswirkungen dieser Veränderungen auf die Beschäftigten. Der Nutzen neuer Technologien hängt maßgeblich von der Wahrnehmung, dem Erleben und der Kognition der Menschen ab, die mit ihnen arbeiten. Damit der technologische Wandel zu effizienten, sicheren und gesunden Arbeitsbedingungen führt, ist psychologische Fachkunde in der soziotechnischen Systemgestaltung erforderlich. Eine bloße „Umschulung" von Psycholog*innen zu SiFas wird dieser komplexen Herausforderung nicht gerecht und verschenkt wertvolles Potential für eine menschen-zentrierte Gestaltung der Arbeit der Zukunft.

Unsere zentralen Forderungen:

  1. Psychologische Fachkompetenz als eigenständiger Bestandteil des Arbeitsschutzsystems
    Der BDP fordert die gesetzliche Verankerung psychologischer Fachkräfte als dritte eigenständige Säule im betrieblichen Arbeitsschutz – analog zu Fachkräften für Arbeitssicherheit und Betriebsärzt*innen gemäß § 6 Arbeitssicherheitsgesetz (ASiG). Arbeitspsychologische Expertise ist kein Querschnittsthema, das sich in bestehenden Disziplinen auflösen lässt, sondern ein eigenständiges Präventionsfeld mit spezifischen Methoden, Zielen und Verantwortlichkeiten. Eine solche Erweiterung ist angesichts der Veränderungen in der Arbeitswelt fachlich geboten, strukturell sinnvoll und politisch anschlussfähig.
  2. Keine Umschulung, sondern differenzierte Qualifikationswege
    Psycholog*innen sollten nicht den Umweg über eine sicherheitstechnische Ausbildung gehen müssen, um ihre Kompetenzen im Arbeitsschutz einsetzen zu können. Ihre Kompetenzfelder – etwa im Bereich der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung, Veränderungsbegleitung, Resilienzförderung und gesundheitsgerechten Arbeitsgestaltung – unterscheiden sich grundlegend von jenen der sicherheitstechnischen Fachrichtung.
    Statt einer faktischen „Umschulung“ braucht es eigenständige Qualifikationspfade für die arbeitspsychologische Fachbetreuung. Diese sollten – in Abstimmung mit den Unfallversicherungsträgern und Fachverbänden – aufbauend auf den vorhandenen Kompetenzen von Psycholog*innen konzipiert werden und den spezifischen Anforderungen moderner Prävention Rechnung tragen.
  3. Verbindliche Standards für die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung
    Die gesetzliche Pflicht zur Durchführung einer Gefährdungsbeurteilung schließt ausdrücklich psychische Belastungen ein (§ 5 ArbSchG). Doch bisher mangelt es an einheitlichen Qualitätsstandards hinsichtlich Qualifikation, Verfahren und Umsetzung. Der BDP spricht sich da-her für die Erarbeitung verbindlicher Standards aus, die unter Beteiligung aller drei Fachdis-ziplinen – Sicherheitstechnik, Arbeitsmedizin und Psychologie – erfolgen sollten. Nur so kann eine wirksame, rechtssichere und praxisgerechte Umsetzung gewährleistet werden.
  4. Stärkung interdisziplinärer Präventionsteams
    Gerade in kleinen und mittleren Unternehmen fehlen häufig Ressourcen, um spezialisierte Expertise intern vorzuhalten. Der BDP schlägt deshalb vor, den Auf- und Ausbau regionaler, interdisziplinärer Kompetenzzentren zu fördern, in denen Fachkräfte aus Psychologie, Medizin und Sicherheitstechnik unter einem Dach zusammenarbeiten. Solche Teams können gezielt, niederschwellig und wirksam unterstützen – insbesondere dort, wo Einzellösungen wirtschaftlich nicht darstellbar sind.

Zusammenarbeit für einen zukunftsfähigen Arbeitsschutz
Der BDP steht bereit, gemeinsam mit den Trägern der gesetzlichen Unfallversicherung, dem Gesetzgeber und weiteren Fachverbänden ein tragfähiges Konzept zur Integration arbeitspsychologischer Fachkompetenz in den betrieblichen Arbeitsschutz zu entwickeln. Dabei geht es nicht um eine Ausweitung bürokratischer Strukturen, sondern um die fachlich fundierte, effiziente Weiterentwicklung bestehender Präventionssysteme.

Die Einführung einer eigenständigen psychologischen Fachkraft im Sinne einer dritten Präventionssäule soll bestehende Disziplinen nicht ersetzen, sondern gezielt ergänzen. Denn die modernen Belastungsfaktoren der Arbeitswelt – insbesondere im Zuge der digitalen Transformation – haben die Anforderungen an Arbeitsschutz nicht reduziert, sondern erweitert. Sicherheitstechnik, Arbeitsmedizin und Psychologie adressieren unterschiedliche, aber gleichwertige Risikodimensionen, die nur im Zusammenspiel wirksam bearbeitet werden können. Bereits heute zeigen erfolgreiche Praxisbeispiele: Betriebe profitieren von interdisziplinär aufgestellten Präventionsteams – durch wirksamere Maßnahmen, höhere Akzeptanz, geringere Fehlzeiten und eine gestärkte Unternehmenskultur.Investitionen in psychologische Prävention sind daher nicht nur gesundheits-, sondern auch wirtschaftspolitisch sinnvoll.

Vor dem Hintergrund des aktuellen Koalitionsvertrags, der die menschengerechte Gestaltung digitaler Arbeit und die Stärkung psychischer Gesundheit ausdrücklich als politische Ziele benennt, sieht der BDP die Einführung einer dritten Säule nicht nur als Option, sondern als notwendigen Entwicklungsschritt für einen modernen, wirksamen und wirtschaftlich tragfähigen Arbeitsschutz in Deutschland.

Wir bieten an, uns aktiv an der Erarbeitung von Umsetzungsmodellen, Qualifikationsstandards und wissenschaftlicher Begleitung zu beteiligen – in Form einer gemeinsamen Arbeitsgruppe mit den zuständigen Institutionen und Fachverbänden. Nur durch echte interdisziplinäre Zusammenarbeit entsteht ein Arbeitsschutz, der die Herausforderungen der Gegenwart meistert und die Arbeitswelt von morgen gesund, sicher und leistungsfähig gestaltet.

Für Ihre Fragen stehen wir sehr gern zur Verfügung.

Ihre Ansprechpersonen

Thordis Bethlehem
Präsidentin Berufsverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen e. V. (BDP)

Ivon Ames
Vorstand der Sektion Wirtschaftspsychologie im BDP
E-Mail: t.bethlehem@bdp-verband.deE-Mail: ivon.ames@wirtschaftspsychologie-bdp.de

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